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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0312

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Purgierkuren und Blutentziehungeu.

entziehungen mahnen muß, denn die Nervosität auch der höheren Grade
ist in Folge dessen heute verbreiteter als früher; schon damals, wo die
Blutentziehungen so wenig gefürchtet wurden, warnten die erfahrenen
Jrrenärzte davor bei gesteigerter Reizbarkeit des Gehirns.

Das Aderlaßmännlein war schon in meiner Jugend aus den
Kalendern verschwnnden, worin es einst eine große Rolle gespielt hatte.
Es stellte eine menschliche Figur dar, worauf sämtliche Blutadern,
die sich zum Aderlassen eignen, eingezeichnet waren; dabei standen Vor-
schriften, in welchen Monaten das Blut am besten aus dieser oder jener
Ader geholt werden solle. Jn den Köpfen des Landvolks vieler Gegen-
den aber lebte das Aderlaßmännlein sort und der Brauch wurde ein-
gehalten, das „abgenützte" Blut von Zeit zu Zeit wegzuschasfen. Man
nahm es weg in der Absicht, mit ihm die „Unreinheiten" und „Schärfen"
aus den Säften zu bringen und es dnrch reines und besseres zu er-
setzen. Schröpsen und Aderlassen diente zu Regenerationsknren, wie
man sich gelehrt ausdrückt, und da die Welt sich dreht, so beginnt
man heute wieder. zu der alten Methode, die bei den Bauern am
lüngsten anhielt, zurückzukehren. Was gestern unsinnig schien, gilt aufs
neue für Weisheit. Wie vor 60 Jahren giebt es heute wieder unter
den Aerzten Lobredner des Aderlasses, sogar bei der Bleichsucht.

Namentlich im badischen Oberlande hielt der Bauer fest an der
altherkömmlichen Frühlingskur mit Schröpfen und Aderlassen. Dort
haben sich von altersher viele kleine Badekurorte — „Bauernbäder" —
erhalten, in die das Landvolk noch heute mit Beginn des Frühjahrs
an Sonn- und Feiertagen strömt, der Hofbauer mit der Bäuerin zu
Wagen, der kleine Bauer auf Schusters Rappen. Jn den sechziger
Jahren war es noch häufig Brauch bei den Bauern, daß sie zuerst im
heißen Bade das Blut nach außen trieben und es dann mit Schröpfen
aus der Haut und mit dem Schnäpper aus der Ader holen ließen.
Ein reichliches Mahl mit gutem Weine beschloß die Kur und brachte
frisches Blut in die leeren Schläuche.

Jn der Pfalz ging der Bauer, nachdem er den langen Winter
hindurch mehr als gut hinter dem Ofen gesessen hatte, wenn die lauen
Lüfte wehten und er sich jetzt matt und schwer in den Gliedern fühlte,
zum Apotheker. Jrgend eine Purganz, besonders das Wiener Tränklein
 
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