Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0415

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Vereitelte Zukunftspläne.

395

mit Geist und Erfolg die pathologische Anatomie im Sinne Müllers
und Schwanns. Es schien mir aber, der äußeren Schwierigkeiten halber,
zu unsicher, ob ich nach der Heimkehr es wirklich unternehmen könne,
mich als Dozent in Heidelberg niederzulassen; ich mochte deshalb das
mit meinem Freunde Bronner gefaßte Vorhaben, zunächst noch Prag
zu besuchen, nicht aufgeben; gelang es mir, nach der Heimkunst jene
Schwierigkeiten zu überwinden, so hoffte ich unter Henles Aegide dort
mein Ziel zu erreichen.

Jn Prag trat mir der verführerische Gedanke, der mich schon
in Wien so lebhaft beschäftigt hatte, wieder nahe. Jm Lesezimmer der
Aerzte las ich die zwei Dezembernummern der Berliner medizinischen
Zeitung 1846, worin Virchow den allgemeinen Teil von Rokitanskys
Handbuch der pathologischen Anatomie kritisierte. Die Kritik war wie
eine Bombe in das Lager der Wiener Schule niedergefahren. Virchow
nannte das Buch gefährlich, einen Ueberfall der Klinik durch die Ana-
tomie, die mit unerwiesenen, willkürlichen chemischen und physiologischen
Hypothesen über die ihr gesteckten Grenzen weit hinaus in das Ge-
biet der Pathologie greife. Rokitansky habe zu den vielen spekulativen,
haltlosen Systemen der Pathologie ein neues geliefert, das seinem
großen anatomischen Verdienst Eintrag thue. Gleich nachher fiel mir
das 1. Heft seines 1847 mit Reinhard herausgegebenen Archivs für
pathologische Anatomie und Physiologie in die Hände. Die zündenden
Worte seines Programms: „Ueber die Standpunkte der wissen-
schaftlichen Medizin" ergrifsen mich müchtig. Ter junge Anatom
ging dem faulen Skeptizismus und Nihilismus der Wiener scharf zu
Leibe. Er zeichnete mit sicherer Hand die Ziele und Wege, die der
Medizin ihr zwiefacher Charakter als Naturwissenschaft und thütige
Kunst in der pathologischen Forschung vorschreibt. Die Heilkunde sei keine
Wissenschast, die man einzig um ihrer selbst willen pflegen dürfe, für
sie gelte das Wort: seisntin sst potsntia!*) Sie dürfe nicht auf den
Wolken thronen, sondern müsse auf festen Beinen unter dem Volke
wandeln und sorgen, ihm Leben und Gesundheit zu schirmen. Ter
Ausbau der pathologischen Anatomie geschehe nicht durch Aussinnen

*) Wissenschaft ist Macht.
 
Annotationen