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die entseelte Hülle des Sterblichen und lebte als Bauer in
dem großen Reiche des Czaaren und Pflügte den Acker des
Gntsherrn.

Kurze Zeit darauf ritt der Gutsherr vor der Thüre
seines Sklaven vorbei und da es heiß war, dürstete ihn, und
er rief um ein Glas Wasser hinein in die Hütte, und zit-
ternd reichte ihm die Tochter des Knechtes, was das Haus
gewahrte. Als aber der Herr die schlanke Tochter des Skla-
ven erblickte, warf er einen langen glühenden Blick auf das
Mädchen und ritt schweigend von dannen. Am selben Abende
erschienen sechs bewaffnete Diener in dem ruhigen Gehöfte
und führten mit Gewalt die schöne Maid von dannen, der
Vater aber folgte ihr und er sah sie in das Schloß seines
Gutsherrn geschleppt. Und er trat vor seinen Herrn und
flehte: „Laß mein armes Kind!" Da lachte der „Edle"
spöttisch und sagte: „Sie ist mein!" Und die Wahrheit er-
mannte sich und sprach: „Du Tieger!" Da funkelten die
Augen des Herrn und er rief: „Du Sklave, du wagst es
mich zu schelten!" Und die Wahrheit sprach: „Du Henker!"

Da rief der adelige Mann seine Bewaffneten und sprach:
„Ergreift mir den Hund und peitscht ihn!"

Als aber die Bewaffneten ihn ergreifen wollten, da war
der Mann verschwunden, doch leuchtend erhub sich an seinem
Platze die Wahrheit und rief mit donnernder Stimme: „Es
ift wahr, was die Freiheit geklagt hat, du bist gerichtet Land!

deiner Tyrannei!" Sie verschwand. Der Guts-
herr aber ward krank und starb nach wenigen Tagen, denn
er hatte die Wahrheit gesehen von Angeficht zu Angesicht.

Darauf durcheilte die Wahrheit auf göttlichen Schwin-
gen den russischen Grenzkordon und durch das dreigetheilte
Polen kam sie in das schöne Land der schlummernden Jung-
frau Germania. Sie dachte darüber nach, welch' eine Men-
schengestalt fie annehmen wollte, und nach langem Besinnen
verwandelte ste sich in einen deutschen Literaten, verfaßte ein
Buch über das Wesen der Wahrheit und machte ihre Auf-
wartung bei einem deutschen Censor; aber der deutsche Cen-
sor war ein so großer Freund der Wahrheit, daß er die
besten Wahrheiten des Buches für sich behielt und das Ma-
nuscript so verstümmelt zurücksandte, daß das Buch der
Wahrheit schier sich ausnahm, wie die Aphorismen eines
denkenden Kosacken. Hierüber ergrimmt ließ die Wahrheit
das Buch ohne Censur drucken und bald darauf wurde ste
eingesteckt in der Person eines deutschen Literaten.

Sie wurde acht Wochen lang in ein dunkles Loch ge-
sperrt und wußte immer noch nicht weßhalb? Nach acht
Wochen aber wurde die ewige Göttin in ihrer menschlichen
Gestalt aus dem Kerker hervorgezogen und vor ein sogenann-
tes Gericht geftellt. Und das Gericht glaubte einen gewöhn-
lichen Literaten vor sich zu haben und ahnete nicht, daß die
Wahrheit vor ihm stand und die Wahrheit ward deßhalb
von dem Gerichte auch Lehandelt, wie ein gewöhnlicher Li-
terat. Das Buch von der Wahrheit wurde ihr vorgehalten
und man fragte sie, ob sie es verfaßt habe; und nachdem sie
dieß bejaht, wurde „das Wesen der Wahrheit" für Hoch-
verrath erklärt, und die Wahrheit wurde zu zwanzig Jahren
Festungsstrafe und zum Verluste der preußischen National-
kokarde verurtheilt.

Die fleischgewordene Göttin aber erhob sich stolz ihren
Richtern gegenüber und sprach: „Es ist eine Schande, daß
ihr mich in der Dunkelheit verhaftet und im Finstern rich-
tet. Jch verlange ein anderes Gericht von Männern, die
mich verstehen, denen ihr Gefühl mehr gilt, als vergilbte
Pergamentrollen; ich verlange vor ein öffentliches Gericht
gestellt zu werden, denn ich habe ein Buch geschrieben über
die Wahrheit, und diese stndet kein Echo in einem verstaub-
ten Büreaukratenherzen und dringt nicht durch die Verschan-
zung eines Ordens." Da fuhr das ganze Gericht auf und
rief: „Er lästert Gott und den Fürsten, hört ihr's? Er redet
den Geschwornengerichten das Wort, er ist ein doppelter
Verräther!" Und der Vorsitzende des Gerichtes rief die Wache
heran und sprach: „Ergreift den gefährlichen Kerl ihr Leute
und bindet ihn! Bringt ihn in den entlegensten Kerker, da-
mit das Volk das Schreien seines hochverrätherischen Mun-
des nicht hört und er nicht Empörer mache aus gehorsamen
Unterthanen."

Als aber die Wache den Literaten ergreifen wollte, da
legte plötzlich die Göttin ihr geborgtes Gewand ab, daß fie
da stand in rosigem Schimmer. Und die Wahrheit trat zum
ersten Male mitten unter die deutschen Richter und sprach:
„Es ist wahr, wie die Freiheit, meine Schwester gesagt hat;
dieses Land ist reif für das Gericht des ewigen Gottes der
Weltgeschichte. Denn seht ihr Verräther, ich bin die Wahr-
heit und ihr habt mich gerichtet. Darum aber will ich euch
richten! Fluch über eure Censur, ihr wollet meine Schwin-
gen damit beschneiden und Fluch über die Bureaukratie, fie
will meine Gefühle zu Hochverrath deuten.
dem Lande. Es ist gerichtet!"

Sie war verschwunden. Aber der Präsident des Kri-
minalhofes sank zurück in seinen Präfidentenstuhl und die
Angst zog ihm als Zipperlein in die Füsse und er hat bis
an setnen Tod keinen Literaten wieder verurtheilt, weder zu
Festungsftrafe noch zum Verluste der preußischen National-
kokarde.

Als nun die Wahrheit in Deutschland ihre Sendung
erfüllt hatte, entfaltete sie ihr unfichtbares Gewand, schwang
fich empor in die freien Lüfte, und ließ sich nieder an jenem
linken Ufer, wo deutsche Treue vergeht, welche am rechten
Ufer auch seit einiger Zeit ein gesuchter Artikel geworden ist.
Weil aber Paris Frankreich ist, beschloß sie dort ihre Stu-
dien fortzusetzen; ste ließ sich in den Körper eines Deputir-
ten aus einer fernen Provinz Frankreichs nieder und ward
bald in Paris ein eifriger Verfechter der Freiheiten ihres
neuen Vaterlandes. Hier hatte sie Gelegenheit die interes-
santesten Bemerkungen zu machen, denn da fie die Menschen
durchschauen konnte, wie wir eine Fensterscheibe, so sah fie
in der Brust von einigen ihrer Collegen an der Stelle des
Herzens einen Orden der Ehrenlegion, bei den Meisten aber
hing an diesem Platze ein großer Geldbeutel, gefüllt und
immer auf's Neue gefüllt durch den edlen Minister auf den
Rath und den Befehl seines Herrn und Meisters. Und da
der Mund überströmt von dem, wovon das Herz voll ist, so
hielten die Herren Deputirten Reden, die klangen wie be-
zahlt. Und darob entsetzte sich die Wahrheit und war zu-
letzt der einzige Deputirte, der stch seine Reden nicht bezah-
 
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