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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0030
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10 Erstes Buch. Die alte Kunst des Orients.

und Madura, und weiter abwärts am Ganges Palibotra, Eiesenstädte, deren
Umfang, Keichthum und Pracht schon das altindische Epos zu rühmen
weiss. Kein Wunder, wenn die Natur des Landes in frühster Zeit gleich-
sam von selbst ein Kulturleben von seltner Fülle und Pracht erzeugte.
Kein Land der Erde entfaltet unter den Tropen eine gleiche Ueppigkeit
der Triebkraft, die allein in dem nördlichen Theile, dem eigentlichen Hin-
dostan, die Lebenserscheinungen aller Zonen, vom starren Eis und dem
spärlichen Moos der Gletscherwelt bis zu dem wuchernden Schlinggewächs
und den majestätischen Palmen der Tropen vereint. Unter der glühenden
Sonne des Wendekreises entwickelt der wasserreiche Boden eine nie geahnte
Fruchtbarkeit, dem Menschen in verschwenderischer Fülle alle Bedingungen
•des Daseins mühelos entgegen tragend, aber auch mit der überströmenden
Gewalt ihrer Triebkraft den Geist unrettbar bestrickend und betäubend.

Es konnte nicht fehlen, dass das Uebergewaltige, Wunderbare im
Leben der Natur den Sinn der Menschen gefangen nahm, die Thätigkeit
der Phantasie unendlich erregte, sie mit den glänzendsten Bildern erfüllte
und dem Dasein den Charakter ruhigen Beharrens, schwelgerischen Ge-
niessens aufprägte. Damit verband sich ein tiefes Versenken in die Geheim-
nisse des natürlichen Lebens, eine schwärmerische Hingabe an die heimische
Umgebung und ein Hang zu grübelnder Spekulation. Ersteres vergegen-
wärtigen oft mit hohem poetischen Beiz die alten Dichtungen des Volkes,
ja das Gefühl sanfter Schwärmerei, wie es in Kalidasa's Sacontala lebt,
verräth eine Tiefe und Innigkeit des Natursinns, die den übrigen Völkern
des Alterthums fremd ist. Wie aber das Naturleben Indiens voll schroffer
Wechsel und jäher Uebergänge erscheint, so zeigt sich auch die moralische
Welt. Neben der sanften Schwärmerei geht zügellose Ausschweifung her,
und mit der zarten Liebe zur Natur contrastirt eine Härte des Sinnes,
die ihren schneidenden Ausdruck in der Kastengliederung des Volkes findet.
Diese Verhältnisse waren offenbar der Niederschlag grosser geschichtlicher
Umwälzungen, die vermuthlich in grauer Vorzeit mit der Eroberung des
Landes durch westwärts eingedrungene kaukasische Stämme zusammen-
hangen. Nicht bloss die unverkennbare Verschiedenheit der Eacen, die
.scharfe Trennung der untergeordneten von den herrschenden Kasten der
Priester und Krieger, sondern auch die durch religiöse Satzungen befestigte
Verachtung, unter welcher die Erstem seufzen, deuten auf das Verhält-
niss Unterjochter zu ihren Besiegern. Die kaukasische Abstammung der
Letztern ist theils durch die Körperbildung, theils durch ihre Sprache»
das Sanskrit, verbürgt, die den östlichsten Hauptzweig des mächtigen, bis
über das ganze südliche und mittlere Europa sich ausbreitenden Indo-
Germanischen Stammes bildet.

Wie aber ursprüngliche Anlagen erst durch die Besonderheit der kli-
matischen Verhältnisse und durch den unaufhörlichen Wechselprozess zwischen
 
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