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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0096
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76 Zweites Buch. Die klassische Kunst.

gerade der Zweig, 'den wir unter dem Namen der Griechen kennen, sich
so wunderbar hoch über jene stammverwandten Völker habe aufschwingen
können. Uni dies zu erklären, haben wir die Natur des Landes näher ins
Auge zu fassen.

Durch mächtige Gebirgszüge Ton den nördlichen Ländern geschieden,
streckt sich das Gebiet der Hellenen als südlichste Spitze Buropa's gegen
den afrikanischen und asiatischen Continent heraus, mit dem letzteren
durch die zahlreichen Inselgruppen des ägäischen Meeres nahe zusammen-
hängend. So klein das Land an Ausdehnung ist, zeigt es doch in seiner
Terrainbildung einen Eeichthum und eine Manniehfaltigkeit der Gliederung,
wie sie kaum ein anderes Land der Welt besitzt. Von zahlreichen Ge-
birgen nach allen Richtungen durchschnitten, die sich vielfach verästeln
und mit ihren Vorgebirgen weit ins Meer vorspringen, erhält das Land
eine grosse Anzahl selbständiger Gebiete, die sich gegen einander durch
jene Höhenzüge abgrenzen, mit weiten und tiefen Buchten dagegen sich
seewärts öffnen. Diese unendlich reich abgestufte Individualisirung des
Terrains weist vorbildlich darauf hin, dass, wenn irgendwo, hier der Raum
für eine analoge Entwicklung des Menschendaseins gegeben sei. Rechnet
man dazu, dass die Natur, fern von tropischer Ueberschwänglichkeit, sich
hier zur Milde eines zwar südlichen, aber durch Berg- und Seeluft ge-
mässigten Klima's sänftigt, dass der Boden, zum Theil steinig und uner-
giebig, dem Menschen nicht ohne Arbeit, nicht mühelos seine Früchte in
den Schoos wirft, so begreifen wir, wie ein Volk, das Jahrhunderte in
diesen Gegenden sass, durch die Vereinigung solcher ßedingnisse allmählich
sich so entwickeln musste, wie wir es an den Griechen sehen. Als in
grauer Vorzeit die Urahnen der Hellenen sich, wahrscheinlich über die
Meerenge des Bosporus vordringend, über das Land ausbreiteten, brachten
sie die damalige Kultur des Orients, in Sprache, Sitten und Religion mit
herüber. Einmal auf dem neuen Schauplatz ihrer Thätigkeit angelangt,
machte die europäische Natur des Landes sich bei ihnen geltend und liess
nach einer langen Reihe durchlaufender Entwicklungsstadien sie zu der
Höhe gelangen, auf welcher sie uns als ein neues, durchaus selbständiges
und eigenthümliches Volk entgegen treten.

Dies Kulturverhältniss, das sich als Resultat der gesammten Alter-
tumsforschung unverkennbar herausstellt, ist vielfach übersehen worden,
wodurch auch für die Betrachtung der Kunst die verschiedensten irrigen
Voraussetzungen veranlasst wurden. Man glaubte entweder jeden Zusam-
menhang der Griechen mit dem Orient leugnen zu müssen, oder man
machte — und dies besonders in jüngster Zeit — die Griechen in allen
Stücken zu Nachbetern, mindestens m Schülern der Aegypter und Asiaten,
indem man bei höchst oberflächlicher Beobachtung eine Reihe griechischer
Kunstformen direkt von ägyptischen oder vorderasiatischen ableitete. So
 
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