Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0190
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
170 Zweites Buch. Die klassische Kunst.

seinen ganzen Gehalt ausmachten, so auch die Kömer. Obwohl sie all-
mählich alle Nationen der Welt ihrem ungeheuren Beichskörper einver-
leibten, blieben sie im Grundzuge ihres Wesens, trotz mancher Umgestal-
tungen, dieselben, die sie von Anfang waren.

Dieser Grundzug ist der eines energischen, lebensklugen, praktischen
Sinnes, eines realistischen, auf Erwerb und Besitz gerichteten Verstandes.
Aus ihm erklärt sich die bedeutende Befähigung der Eömer für Entwick-
lung des Staatslebens, für scharfe Ausprägung, Feststellung und Durch-
bildung des Beehtsbegriffes. Es war ein rüstiger, kraftvoller Volksstamm,
ebenso klug als tapfer, und in der guten Zeit von einer rauhen männlichen
Tugend, deren höchstes Ideal strenge Eechtlichkeit und altvaterische Sitte
bildeten. Mit der fortgesetzten Vergrösserung des Beiches nach aussen
ging die consequente Fortentwicklung der innern Verhältnisse Hand in
Hand. Die bürgerliche Stellung zwischen Patriciern und Plebejern, das
Verhältniss der Bundesgenossen, der Schutzbefohlenen und der unter-
worfenen fremden Völker ergaben ebenso viele Aufgaben, in deren Lösung
staatsmännische Weisheit und legislatorische Befähigung sich bewähren
konnten und wirklich bewährten. Dazu kamen noch die vielverzweigten
Beziehungen, in denen der Einzelne und die Familie zum Staate standen,
denn im Gegensatz zu Griechenland, wo das Familienleben in fast orien-
talischer Weise für sich abgeschlossen war und vom Staat ignorirt wrurde,
basirte das Gesammtleben des Staats bei den Bömern auf der Existenz
•der Familie, und während bei den Griechen die ehrbaren Frauen gleich-
sam ein latentes Dasein führten, hatte die römische Matrone neben dem
Familienvater ihre ehrenvolle Stellung im öffentlichen Leben.

Während die Bömer so ihre inneren Angelegenheiten ordneten, Italien
und die Welt eroberten, Beiche zerstörten, Könige stürzten und einsetzten
und dem Erdkreis Gesetze diktirten, blieben sie in allen idealen Aeusserungen
geistigen Lebens, in Poesie und Kunst, ja selbst in der Ausprägung ihrer
Beligion von den Griechen abhängig. In der früheren Zeit waren unstreitig
etruskische Einflüsse bei ihnen überwiegend, doch traten die griechischen
bald an deren Stelle. Die römischen Götter entstammen grösstentheils
dem griechischen Olympos; der Bömer nimmt die Gestalten des hellenischen
Mythos auf, indem er bloss ihre Namen übersetzt und hin und wieder
ihrem Wesen einen neuen Zusatz oder eine derbere Fassung gibt. Selbst
die Stammessage suchte man durch Aeneas mit der griechischen Heroen-
sage zu verknüpfen. Was aber aus eigner Anschauung diesem Beligions-
system hinzugefügt wurde, hatte mehr einen moralischen, ethischen, als
«inen mythischen, plastischen Charakter. Daher fehlte den Bömern nicht
allein ein nationales Epos, sondern sie wurden in allen Hauptarten der
Poesie die Schüler und gelehrten Nachahmer der Griechen, und verpflanzten
sowohl das Epos wie das Drama von Hellas auf den Boden Latiums. Es
 
Annotationen