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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0394
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374 Drittes Buch. Die Kunst des Mittelalters.

Kaiser an der Spitze der europäischen Verhältnisse, auch in der Kultur
und vor Allem in der Kunst den andern Ländern vorangeeilt. Jetzt, da
es galt, die letzten Consequenzen zu ziehen, die Empfindung des Einzelnen
aus hierarchischem Bann zu erlösen, trat Prankreich und zwar der über-
wiegend germanische Nordosten des Landes die Führerschaft an. Man
hatte sich hier niemals so innig und vielfach mit Italien verbunden gefühlt,
wie in Deutschland, stand also der antiken Tradition freier gegenüber.
Das Eitterthum hatte sich rascher und blühender entfaltet als anderswo.
Der leicht erregbare Sinn, der schon damals dieser Nation eigen war,
hatte sie vornehmlich zur begeisterten Theilnahme an den Kreuzzügen hin-
gerissen, wie denn noch in der Mitte des 13. Jahrhunderts König Ludwig
der Heilige aus eignem Antrieb einen Kreuzzug unternahm. Dadurch war
der gewaltige sociale Umschwung, den diese- phantastischen Fahrten in
Leben, Sitte und Anschauungen des Abendlandes hervorriefen, in Frank-
reich mit besonderer Stärke hervorgetreten. Die Wunder des fernen Orients,
das Abenteuerliche der Fahrt, die Mischung mit fremden Nationen, das
Alles hatte die alten Vorstellungen erschüttert und neue Ideenkreise er-
zeugt. Die alte strenge Zeit war für immer dahin, eine neue tieferregte,
glänzend und mannichfach bewegte Epoche begann. Dazu kam, dass
Deutschland um diese Zeit jene lange Periode der Zerrüttung und Ver-
wirrung erlebte, die mit dem Untergang der hohenstaufischen Macht be-
gann, dem Aufblühen der Städte und des Bürgerthums zwar förderlich
war, die europäische Machtstellung des Eeiches aber für immer zerbrach,
während dagegen in Frankreich die Hausmacht des aus unscheinbarem
Keim entstandenen Königthums durch kluge Politik sich immer mehr be-
festigte und unaufhaltsam vom Norden aus über das ganze Land sich ver-
breitete. Alle diese Momente wirkten zusammen, um Frankreich in dieser
Epoche an die Spitze der Kulturbewegung zu bringen, hier nach kurzem
Bingen gegen die überlieferten Formen dem neuen Geist ein völlig neues
Gewand zu schaffen, während anderwärts, sowohl in Deutschland als in
Italien eine verwandte, wenn auch massigere Bewegung der Geister sich
noch mit einer reicheren, glänzenderen Umbildung des Eomanismus begnügte.
Dieser neue Geist, diese freiere Bewegung lässt sich auf den ver-
schiedenen Gebieten des Kulturlebens klar erkennen. Sein dunkel geahntes,
begeistert verfolgtes Ziel war die Befreiung des Individuums aus hierarchi-
schen Fesseln, freilich nur in dem beschränkten Maasse, das innerhalb
der religiösen Anschauung des Mittelalters enthalten war. Man wollte
nicht etwa eine Opposition gegen die Kirche, obwohl man jetzt noch we-
niger als früher erforderlichen Falls vor einem Auflehnen selbst gegen die
höchsten Aussprüche des Paptes zurückbebte. Die Zeit war gläubiger,
religiöser als die frühere. Aber die mächtig erwachte Empfindung begnügte
sich nicht mehr mit der strengen Allgemeinheit des priesterlichen Dogma's,
 
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