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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0480
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4(50 Viertes Buch. , Die Kunst der neueren Zeit.

seiner Zunft und Gilde eng umschlossen war, konnte er sich zur Selbstän-
digkeit und Freiheit der Anschauung nicht erheben; wo aber das Indivi-
duum sich kühn auf sich selber stellte, da zerfielen die morschen Schranken,
und die Auflösung des Mittelalters war unvermeidlich.

Es ist kein Zufall, wenn diesem stark pulsirenden Eingen eine Eeihe
grosser Ereignisse zu Hülfe kam, deren Eingreifen, verbunden mit dem
überall vordringenden neuen Geiste, den ganzen Zustand Europa's von
Grund aus änderte und der abendländischen Menschheit eine neue "Welt
und einen nie zuvor geahnten Umfang von Anschauungen und Anregungen
bot. Es sind weltgeschichtliche Fügungen, dass um die Mitte des 15. Jahr-
hunderts durch die Erfindung der Buchdruckerkunst dem Gedanken Schwingen
gegeben wurden, auf denen er von Land zu Land, von einem Yolk zum
andern im Fluge getragen wurde und über die engen nationalen Grenzen
hinaus ein gemeinsames Band der Geister knüpfte; dass um dieselbe Zeit
die Eroberung Constantinopels durch die Türken einen Strom griechischer
Bildung nach dem Abendlande führte, der dem dort lebhaft erwachten
Sinn für die Antike reiche Nahrung zutrug; dass endlich noch vor Ablauf
des Jahrhunderts die Entdeckung eines neuen Welttheiles die Kunde von
der Heimath des Menschengeschlechtes wundersam erweiterte, die uralt
gültigen Anschauungen mit einem Schlage umstürzte, und nicht bloss dem
Forschergeist, sondern auch der schweifenden Phantasie neue Beiche er-
schloss. Schien doch die alte Erde selbst ihre Fesseln zu sprengen und
hinter den so lange geträumten Grenzen neue, unermessliche Gebiete auf-
zuthun: wie sollten die Weltanschauung und das Lebensgesetz des Mittel-
alters noch ferner ihr Eecht behaupten? Alle die engen Kreise, in denen
sich die Wrelt so lange bewegt hatte, begannen zu wanken, und mit der
inneren Auflösung vollzog sich unaufhaltsam eine allgemeine Umwälzung-
des äusseren Daseins. Die Städte-Bepubliken des Mittelalters brachen
machtlos zusammen vor dem Drange, der zu grösseren Staatsverbindungen,
zur Bildung umfassender politischer Gebiete hintrieb. Der Begriff des
modernen Staates fing an sich zu formen, zu verwirklichen, und die sou-
veräne Fürstenmacht erhob sich aus den Trümmern mittelalterlicher Frei-
heiten und Gemeinwesen.

Aber was innerhalb dieses gewaltigen Gährens, unter allem Bingen
von Gewalt, List und Kühnheit in dieser merkwürdigen Epoche siegreich
sich behauptete, das war das selbstbewusste, freie Individuum, die Kraft
des individuellen Genius. Am erneuten und vertieften Studium des Alter-
thumes sollte dieselbe sich stählen und eine Epoche höherer Bildung her-
aufführen, die der zünftigen Gelehrsamkeit des Mittelalters ein Ende machte
und alle Gleichstrebenden über die engen Schranken des nationalen Lebens
hinaus zu einem grossen Bunde vereinte. Mit jugendlicher Begeisterung
drängten sich die ausgezeichnetsten Köpfe zum Studium der klassischen
 
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