558 Viertes Buch. Die Kunst der neueren Zeit.
Lionartlo auch in der Malerei als Mitbegründer der neuen Zeit da, zugleich
aber als einer der Ersten und Höchsten unter allen Meistern dieser Kunst.
Ja man darf sagen, dass im Erhabenen, Gewaltigen, Gedankentiefen, in
kühner Bewegung und grossartiger Formbildung kein Andrer in der Kunst
ihm jemals gleichgekommen sei. Obwohl er selbst seine Vorliebe der
Plastik zuwendete, ereignete es sich doch durch die Fülle und den Eeich-
thum seiner Gedanken, dass er seine vollendetsten Werke in der Malerei
geschaffen hat, die allein ihm den genügenden Spielraum für seine Ent-
würfe zu gewähren vermochte. Derselbe titanenhafte Geist, der seine
Skulpturen erfüllt, lebt auch in den grossen Gemälden, die er geschaffen.
Staffeleibilder waren seine Sache nicht; was sich in solchen Eaum zwängen
liess, sprach er lieber im Marmor aus, oder gab es andern zur Ausführung.
Dagegen schuf er allein ohne Beihülfe die beiden grössten Fresken, welche
bis dahin vollendet worden waren, unabhängig von aller künstlerischen,
wie von der kirchlichen Tradition. Er bewies in diesen wunderbaren Werken
eine Kraft und Gewalt, vor welcher selbst die Grössten nach ihm sich ehr-
furchtsvoll gebeugt haben.
Michelangelo empfing seinen ersten Unterricht bei Domenico Ghirlan-
dajo, den er durch die rasche Entwicklung seines Talentes in Staunen
setzte. Zugleich zeichnete er aus eignem Antriebe fleissig nach den herr-
lichen Fresken Masaccio's in S. Maria del Cärmine und widmete den an-
tiken Besten nicht minder das sorgfältigste Studium. Wie kühn und selb-
ständig er schon in früher Zeit auftrat, beweist neben seinen ersten pla-
stischen Werken ein Tafelbild der heiligen Familie, das sich noch jetzt in
der Tribuna der Uffizien findet. Die Madonna sitzt mit untergeschlagenen
Füssen am Boden, hat eben ihr Gebetbuch, das ihr im Schoosse liegt,
geschlossen und langt nach dem Kinde, das ihr von dem hinter ihr
sitzenden Joseph dargereicht wird. Den Hintergrund füllen nackte Ge-
stalten, die sich an eine Brustwehr lehnen und allerdings keinem anderen
Grunde ihre Entstehung verdanken, als dem Bedürfniss des Künstlers,
sich in Zeichnung der menschlichen Formen zu genügen. Die Gruppe selbst
ist im Motiv überaus gesucht und desshalb, trotz der gediegensten Zeich-
nung, wenig anziehend. Jeden äusseren sinnlichen Beiz verschmähte hier
schon der Meister so sehr, dass er sein Werk in einem trocknen Tone in
Tempera ausführte.
Mehr nach seinem Sinne war ohne Zweifel ein Auftrag der florenti-
nischen Stadtgemeinde, für den grossen Saal des Palazzo Vecchio, in wel-
chem Lionardo bereits malte, ebenfalls ein Schlachtbild zu entwerfen. Er
wählte einen Moment vor dem Kampfe, wo die Soldaten sich unbesorgt
dem Bade im Arno überlassen haben und nun plötzlich durch den Klang
der Drommeten zum Streit gerufen werden (Fig. 305). Als er seinen
Karton vollendet hatte (1505), erregte derselbe so sehr die Bewunderung
Lionartlo auch in der Malerei als Mitbegründer der neuen Zeit da, zugleich
aber als einer der Ersten und Höchsten unter allen Meistern dieser Kunst.
Ja man darf sagen, dass im Erhabenen, Gewaltigen, Gedankentiefen, in
kühner Bewegung und grossartiger Formbildung kein Andrer in der Kunst
ihm jemals gleichgekommen sei. Obwohl er selbst seine Vorliebe der
Plastik zuwendete, ereignete es sich doch durch die Fülle und den Eeich-
thum seiner Gedanken, dass er seine vollendetsten Werke in der Malerei
geschaffen hat, die allein ihm den genügenden Spielraum für seine Ent-
würfe zu gewähren vermochte. Derselbe titanenhafte Geist, der seine
Skulpturen erfüllt, lebt auch in den grossen Gemälden, die er geschaffen.
Staffeleibilder waren seine Sache nicht; was sich in solchen Eaum zwängen
liess, sprach er lieber im Marmor aus, oder gab es andern zur Ausführung.
Dagegen schuf er allein ohne Beihülfe die beiden grössten Fresken, welche
bis dahin vollendet worden waren, unabhängig von aller künstlerischen,
wie von der kirchlichen Tradition. Er bewies in diesen wunderbaren Werken
eine Kraft und Gewalt, vor welcher selbst die Grössten nach ihm sich ehr-
furchtsvoll gebeugt haben.
Michelangelo empfing seinen ersten Unterricht bei Domenico Ghirlan-
dajo, den er durch die rasche Entwicklung seines Talentes in Staunen
setzte. Zugleich zeichnete er aus eignem Antriebe fleissig nach den herr-
lichen Fresken Masaccio's in S. Maria del Cärmine und widmete den an-
tiken Besten nicht minder das sorgfältigste Studium. Wie kühn und selb-
ständig er schon in früher Zeit auftrat, beweist neben seinen ersten pla-
stischen Werken ein Tafelbild der heiligen Familie, das sich noch jetzt in
der Tribuna der Uffizien findet. Die Madonna sitzt mit untergeschlagenen
Füssen am Boden, hat eben ihr Gebetbuch, das ihr im Schoosse liegt,
geschlossen und langt nach dem Kinde, das ihr von dem hinter ihr
sitzenden Joseph dargereicht wird. Den Hintergrund füllen nackte Ge-
stalten, die sich an eine Brustwehr lehnen und allerdings keinem anderen
Grunde ihre Entstehung verdanken, als dem Bedürfniss des Künstlers,
sich in Zeichnung der menschlichen Formen zu genügen. Die Gruppe selbst
ist im Motiv überaus gesucht und desshalb, trotz der gediegensten Zeich-
nung, wenig anziehend. Jeden äusseren sinnlichen Beiz verschmähte hier
schon der Meister so sehr, dass er sein Werk in einem trocknen Tone in
Tempera ausführte.
Mehr nach seinem Sinne war ohne Zweifel ein Auftrag der florenti-
nischen Stadtgemeinde, für den grossen Saal des Palazzo Vecchio, in wel-
chem Lionardo bereits malte, ebenfalls ein Schlachtbild zu entwerfen. Er
wählte einen Moment vor dem Kampfe, wo die Soldaten sich unbesorgt
dem Bade im Arno überlassen haben und nun plötzlich durch den Klang
der Drommeten zum Streit gerufen werden (Fig. 305). Als er seinen
Karton vollendet hatte (1505), erregte derselbe so sehr die Bewunderung