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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0634
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614 Viertes Buch. Die Kunst der neueren Zeit.

So zahlreich die plastischen Werke dieser Epoche sind, so unzureichend
blieben bis jetzt die Untersuchungen derselben, die allerdings dadurch
bedeutend erschwert werden, dass eine Unzahl von lokalen Schulen neben
einander treten, und nur selten einzelne bedeutendere Meister sich wie
leuchtende Mittelpunkte aus der gleichförmigen Masse erheben. Am mei-
sten sind wir noch über die deutsche Plastik unterrichtet; spärlich da-
gegen nur über die der anderen Länder, deren Entwicklungsgang indess
dem deutschen ziemlich zu entsprechen scheint. Das allgemeine, etwas
leer und conventionell gewordene Schema der idealistischen gothischen
Kunst wird fast ohne Ausnahme verlassen und dafür die Eichtung auf
naturgetreue, individuelle Darstellung mit einer selbst ins Extreme gehenden
Einseitigkeit verfolgt. Der scharfe, bestimmte Ausdruck der Physiogno-
mien, das Eingehen auf alle kleinen Besonderheiten der Gestalt, der Hal-
tung, selbst des Kostümlichen, die Lust am Ausprägen der verschiedenen
Stoffe nach ihrer besonderen Textur und Beschaffenheit sind die unmittel-
baren Folgen dieser Eichtung. "Während die Gedanken, die Compositionen,
die Anordnung im Ganzen noch mittelalterlich sind, spricht sich doch
Alles in einer Formgebung aus, die mit der Tradition nichts mehr zu
schaffen hat, ja sogar nicht selten einen Gegensatz mit dem ideellen Ge-
halt aufweist. Wo die Stoffe der heiligen Geschichte behandelt werden,
dringt ein leidenschaftliches, selbst gewaltsames Element in die Dar-
stellung, und nichts wird in dem Streben nach Affekt in dieser Zeit so
gern und so häufig behandelt, wie die Passion Christi und die Martyrien
der Heiligen. Dies Alles hat im Eelief einen überladenen, ins Malerische
gehenden Styl zur Folge, der hier ganz ohne Einfluss der Antike, rein
durch die geistige Stimmung der Zeit hervorbricht und nur um so greller
wirkt, da für die Einzelbildung nicht wie in Italien die antike Plastik ein
edleres, harmonischeres Gesetz an die Hand gab.

Mit dem 16. Jahrhundert beginnen aber die Einflüsse der neuen ita-
lienischen Plastik sich überall hin zu verbreiten. Besonders sind es die
Prachtwerke, Grabmäler und andre Monumente, welche wie im Aufbau, so
auch in der Ausschmückung und der Behandlung des Figürlichen die an-
tikisirende Auffassung Italiens zuerst aufnehmen. So lange sich mit diesem
modernen Idealstyl noch die frische Naturbeobachtung und charakteristisch
individuelle Darstellung der nordischen Kunst verbindet, ergeben sich aus
dieser Wechselwirkung manche lebensvolle, anziehende Werke. Seitdem
aber, etwa gegen 1550, die natürliche Wärme und Naivetät des nordischen
Sinnes verblasst und einem conventionellen, zur Manier erstarrten Classi-
cismus unterliegt, schwindet aus den plastischen Arbeiten grösstentheils
die ächte Unbefangenheit, um einer theatralischen Gespreiztheit, einer
frostigen Allegorie zu weichen.
 
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