Die Tote im Moor 1
Christian Schmidt-Häuer
Für August Reckweg beginnt der 6. September
2000 wie alle Tage seit fast vierzig Jahren. Halb
steigt, halb rutscht der 66-jährige ohne Mühe den
unbefestigten Sanddamm hinab aufs Feld. Das
liegt fast zwei Meter tiefer, weil es seit gut einem
Menschenleben Torf liefert. Sanft wie beim Trau-
benkeltern saugt der Boden die Füße ein. August
kennt das Moor auf Schritt und Tritt. Er liest die
Landschaft wie kein anderer. Was er über das
Leben weiß, hat er von ihr. Zum Beispiel vom
Sonnentau. Den lehrte das karge Hochmoor im
Lauf der Zeit, mit seinen Rosetten Insekten zu
fangen, um sich zu ernähren. Für August Reck-
weg war es 17 Jahre lang der Spaten gewesen, der
seine Existenz sicherte. Danach stieg er auf die
Torfstechmaschine um.
An diesem Mittwochmorgen steht sie auf Feld
26 des Torfwerks Warmsen im Uchter Moor. Das
erstreckt sich über 50 Quadratkilometer am Ende
des südwestlichen Niedersachsens. August und
seine Maschine beginnen, einsam ihre Furchen
zu ziehen. 1000 Meter in Richtung Horizont, wo
ein paar ferne Birken die Einöde markieren. Und
1000 Meter zurück in einer neuen Spur. In jeder
Minute sticht das graue Monster, das an den Mäh-
drescher einer armen LPG aus den Tagen der DDR
erinnert, 80 Zentimeter tief in die Kruste, holt den
Torf herauf, zerteilt ihn auf dem Absetztisch vor
der Fahrerkabine und stapelt die Soden am Gra-
ben auf. Der Boden bebt bei jedem Stich.
Es wird 10.30 Uhr. Die Maschine marschiert
in monotonem Stechschritt wie im Schlaf. Doch
August sieht plötzlich etwas, das kein anderer
mehr entdeckt hätte, seit im Moor nicht mehr von
Hand gestochen wird. Der heute 72-jährige erin-
nert sich: „Plötzlich, als das Schlagmesser hoch-
zog, hatte ich einen Beinknochen im Torf auf dem
Absetztisch. Ich griff nach ihm. Drosselte den
Motor. Stich um Stich kamen Wirbel und andere
Skeletteile hinzu. Ich stoppte die Maschine. Sah
mir die Wand des Stechgrabens an. Genau zwi-
schen Weißtorf und Schwarztorf steckte ein
Schädelknochen. Ich legte alles auf die Soden
und markierte die Stelle mit einer Cocaflasche.
Mir war klar, dass meine Maschine einen Men-
schen, der mitten im Torf lag, in hundert Stücke
zerteilt hatte. Ich alarmierte den Moormeister.“
Um 11.25 Uhr wird Feld 26 zum Fundort. Die
Bei dem Beitrag handelt es sich um einen vomAutormodifizierten
Nachdruck des Artikels „Das Mädchen im Moor“, der am 28. Sep-
tember 2006 im Dossier der ZEIT Nr. 40 veröffentlicht wurde.
Polizisten der Samtgemeinde Uchte protokollie-
ren: „Lichtbilder angefertigt. Beschlagnahme des
Fundorts.“ Um 13.15 Uhr übergeben sie an die
Kollegen vom FK 1 (Fachkommissariat für Kapi-
talverbrechen) der Kreisstadt Nienburg. Krimi-
nalhauptkommissarin Anette Kettner, blond und
gestählt vom Leistungssport, weiß noch, dass sie
nach dem Anruf aus Uchte zuerst bei den Eltern
vorbeigefahren ist. Sie holt sich Hacke und Spa-
ten. Das Moor liegt düster unter Schlieren von
dünnem Regen. In Gummistiefeln und Ölzeug
zerbröckeln Kettner und die Kriminalkommissa-
rin Ursula Beyer drei Stunden lang Torfsoden. Sie
bergen ein Kieferstück mit Zähnen, ein Fußende,
Beckenschaufeln, Knochen. Alles fühlt sich weich
wie Gummi an, weil das Moor den Kalk entzogen
hat. Ist kaum zu unterscheiden von Holz und
anderen Faserteilen.
Manfred Bischoff, alerter Werksleiter der
Torf- und Humus GmbH Uchte, und Moormeister
Reinhold Radtke machen Angaben zum Fundort.
Was sie sagen, weckt den kriminalistischen Spür-
sinn. Und verstärkt die dunklen Ahnungen, die
der Mensch an die schwarzen Wasser des Moores
heranträgt. Direkt an der Fundstelle, so erzählen
sie, verlief früher ein Damm für Torfloren. Und
beiderseits dieses Sandrückens zogen sich seit
den fünfziger Jahren Entwässerungsgräben hin.
Die Kripo Nienburg informiert ihre vorgesetzte
Dienststelle in Hannover mit dem Vordruck „To-
desermittlungsursache“ über die „Meldung des
unnatürlichen Todesfalles...durch August Reck-
weg...“. Der Vermerk über die Leiche ist kurz:
„Zuname: unbekannt“. Am 11. September ent-
scheidet die Staatsanwaltschaft Verden, dass der
Fund dem Institut für Rechtsmedizin der Univer-
sitätsklinik Eppendorf (UKE) in Hamburg über-
stellt werden soll. Kommissarin Kettner hält als
„vorläufiges Ermittlungsergebnis“ fest:
„Lage des Leichnams parallel zu dem Quer-
damm in einem Entwässerungsgraben, so dass
zu vermuten ist, dass der Leichnam in einem der-
artigen Graben abgelegt wurde... Der Mitteldamm
wurde vermutlich - entsprechende Unterlagen
fehlen - Anfang der siebziger Jahre wegplaniert
und der Entwässerungsgraben zugeschüttet, so
dass eine dort liegende Leiche im Torf begraben
wurde.“
Der Fundort wird zum Tatort. Zum Tatort
gehört ein Verbrechen. Kriminalhauptkommis-
sar Martin Lange, der Leiter des FK 1, hat die
Christian Schmidt-Häuer
Für August Reckweg beginnt der 6. September
2000 wie alle Tage seit fast vierzig Jahren. Halb
steigt, halb rutscht der 66-jährige ohne Mühe den
unbefestigten Sanddamm hinab aufs Feld. Das
liegt fast zwei Meter tiefer, weil es seit gut einem
Menschenleben Torf liefert. Sanft wie beim Trau-
benkeltern saugt der Boden die Füße ein. August
kennt das Moor auf Schritt und Tritt. Er liest die
Landschaft wie kein anderer. Was er über das
Leben weiß, hat er von ihr. Zum Beispiel vom
Sonnentau. Den lehrte das karge Hochmoor im
Lauf der Zeit, mit seinen Rosetten Insekten zu
fangen, um sich zu ernähren. Für August Reck-
weg war es 17 Jahre lang der Spaten gewesen, der
seine Existenz sicherte. Danach stieg er auf die
Torfstechmaschine um.
An diesem Mittwochmorgen steht sie auf Feld
26 des Torfwerks Warmsen im Uchter Moor. Das
erstreckt sich über 50 Quadratkilometer am Ende
des südwestlichen Niedersachsens. August und
seine Maschine beginnen, einsam ihre Furchen
zu ziehen. 1000 Meter in Richtung Horizont, wo
ein paar ferne Birken die Einöde markieren. Und
1000 Meter zurück in einer neuen Spur. In jeder
Minute sticht das graue Monster, das an den Mäh-
drescher einer armen LPG aus den Tagen der DDR
erinnert, 80 Zentimeter tief in die Kruste, holt den
Torf herauf, zerteilt ihn auf dem Absetztisch vor
der Fahrerkabine und stapelt die Soden am Gra-
ben auf. Der Boden bebt bei jedem Stich.
Es wird 10.30 Uhr. Die Maschine marschiert
in monotonem Stechschritt wie im Schlaf. Doch
August sieht plötzlich etwas, das kein anderer
mehr entdeckt hätte, seit im Moor nicht mehr von
Hand gestochen wird. Der heute 72-jährige erin-
nert sich: „Plötzlich, als das Schlagmesser hoch-
zog, hatte ich einen Beinknochen im Torf auf dem
Absetztisch. Ich griff nach ihm. Drosselte den
Motor. Stich um Stich kamen Wirbel und andere
Skeletteile hinzu. Ich stoppte die Maschine. Sah
mir die Wand des Stechgrabens an. Genau zwi-
schen Weißtorf und Schwarztorf steckte ein
Schädelknochen. Ich legte alles auf die Soden
und markierte die Stelle mit einer Cocaflasche.
Mir war klar, dass meine Maschine einen Men-
schen, der mitten im Torf lag, in hundert Stücke
zerteilt hatte. Ich alarmierte den Moormeister.“
Um 11.25 Uhr wird Feld 26 zum Fundort. Die
Bei dem Beitrag handelt es sich um einen vomAutormodifizierten
Nachdruck des Artikels „Das Mädchen im Moor“, der am 28. Sep-
tember 2006 im Dossier der ZEIT Nr. 40 veröffentlicht wurde.
Polizisten der Samtgemeinde Uchte protokollie-
ren: „Lichtbilder angefertigt. Beschlagnahme des
Fundorts.“ Um 13.15 Uhr übergeben sie an die
Kollegen vom FK 1 (Fachkommissariat für Kapi-
talverbrechen) der Kreisstadt Nienburg. Krimi-
nalhauptkommissarin Anette Kettner, blond und
gestählt vom Leistungssport, weiß noch, dass sie
nach dem Anruf aus Uchte zuerst bei den Eltern
vorbeigefahren ist. Sie holt sich Hacke und Spa-
ten. Das Moor liegt düster unter Schlieren von
dünnem Regen. In Gummistiefeln und Ölzeug
zerbröckeln Kettner und die Kriminalkommissa-
rin Ursula Beyer drei Stunden lang Torfsoden. Sie
bergen ein Kieferstück mit Zähnen, ein Fußende,
Beckenschaufeln, Knochen. Alles fühlt sich weich
wie Gummi an, weil das Moor den Kalk entzogen
hat. Ist kaum zu unterscheiden von Holz und
anderen Faserteilen.
Manfred Bischoff, alerter Werksleiter der
Torf- und Humus GmbH Uchte, und Moormeister
Reinhold Radtke machen Angaben zum Fundort.
Was sie sagen, weckt den kriminalistischen Spür-
sinn. Und verstärkt die dunklen Ahnungen, die
der Mensch an die schwarzen Wasser des Moores
heranträgt. Direkt an der Fundstelle, so erzählen
sie, verlief früher ein Damm für Torfloren. Und
beiderseits dieses Sandrückens zogen sich seit
den fünfziger Jahren Entwässerungsgräben hin.
Die Kripo Nienburg informiert ihre vorgesetzte
Dienststelle in Hannover mit dem Vordruck „To-
desermittlungsursache“ über die „Meldung des
unnatürlichen Todesfalles...durch August Reck-
weg...“. Der Vermerk über die Leiche ist kurz:
„Zuname: unbekannt“. Am 11. September ent-
scheidet die Staatsanwaltschaft Verden, dass der
Fund dem Institut für Rechtsmedizin der Univer-
sitätsklinik Eppendorf (UKE) in Hamburg über-
stellt werden soll. Kommissarin Kettner hält als
„vorläufiges Ermittlungsergebnis“ fest:
„Lage des Leichnams parallel zu dem Quer-
damm in einem Entwässerungsgraben, so dass
zu vermuten ist, dass der Leichnam in einem der-
artigen Graben abgelegt wurde... Der Mitteldamm
wurde vermutlich - entsprechende Unterlagen
fehlen - Anfang der siebziger Jahre wegplaniert
und der Entwässerungsgraben zugeschüttet, so
dass eine dort liegende Leiche im Torf begraben
wurde.“
Der Fundort wird zum Tatort. Zum Tatort
gehört ein Verbrechen. Kriminalhauptkommis-
sar Martin Lange, der Leiter des FK 1, hat die