Polizei und Rechtsmedizin auf Irrwegen - Kein Fall für die Mordkommission
sondern eine archäologische Sensation
Police and forensic medicine on the wrong track - not a case for the murder squad
but an archaeological Sensation
Klaus Püschel, Anette Kettner und Eilin Jopp
Zusammenfassung: Mit Moorleichen haben Rechtsmediziner sehr selten zu tun. Gelegentlich werden Leichen von
Verunglückten oder beseitigten Opfern von Straftaten innerhalb des rechtsrelevanten Zeitraumes in einer Moor-
landschaft aufgefunden. - Als im Jahre 2000 im großen Uchter Moor (NW-Niedersachsen) ein fragmentierter
Leichnam beim Torfabbau aufgefunden wurde, kamen Polizei und Rechtsmedizin auf ungewöhnliche „Irrwege“.
Der Fund wurde zunächst im Kontext mit früheren Flugzeugabstürzen in dieser Region überprüft. Anthropolo-
gische und odontologische Befunde (Skelett einer jungen Frau, 16 - 20 Jahre alt) signalisierten dann Übereinstim-
mungen zu einer ungeklärten Vermisstensache aus dem Jahr 1969 in dieser Region. Die weiteren Ermittlungen
zogen sich dann sehr lange hin. Fragmentierte mitochondriale DNS war noch nachweisbar. Der Abgleich mit der
Mutter der vermissten Person ergab jedoch keine Übereinstimmung. - Anfang 2005 wurde dann in unmittelbarer
Nähe der ersten Leichenfundstelle bei Torfarbeiten die vollständig erhaltene rechte Hand der Moorleiche aufgefun-
den. Zur Klärung einer archäologischen Relevanz wurde von der Polizei jetzt das Landesamt für Denkmalpflege in
Hannover eingeschaltet. Weitere Begehungen und systematische Grabungen im Gelände ergaben, dass die Lei-
chenfundstelle im gewachsenen Hochmoortorf lag. Einige weitere kleine Knochen, Fingernägel und Hautstücke
wurden noch aufgefunden. Die Radiokarbondatierung ergab eine Leichenliegezeit von etwa 2.700 Jahren (Eisen-
zeit). - Aus dem Fall für die Mordkommission wurde somit eine archäologische Sensation. Der ungewöhnliche Fall
zeigt einmal mehr die Notwendigkeit einer frühzeitigen interdisziplinären Kooperation zwischen Rechtsmedizin,
Anthropologie und Archäologie bei Funden von Leichen bzw. Leichenteilen mit mutmaßlich längerer Liegezeit.
Schlagworte: Moorleiche, Liegezeitbestimmung, Radiokarbondatierung, Identifizierung, „Lindowman“, späte
Leichenveränderung
Abstract: The investigation of bog bodies does not belong to the routine work of forensic medicine. Occasionally
the corpses of victims of foul play or accidental death are found in a mire within the valid period for a criminal
investigation. - When the fragmentary bog body was discovered in the “Grosses Uchter Moor” in NW Lower
Saxony in the year 2000, both the police and forensic medicine were completely on the wrong track. In the first
instance this bog body was thought to be connected with a former aeroplane crash in this area.
The anthropological and odontological findings identified the person as a young woman between 16 and 20
years of age. The morphological results showed a similarity with a person who went missing in 1969; therefore
investigations concentrated on this aspect. The investigations lasted a long time. Mitochondrial DNA was sequenced
but did not match the mother of the missing person. - In 2005 a fully preserved hand was found close to the site of
the first discovery. In Order to exclude a possible archaeological Connection, the police contacted the State Service
for Cultural Heritage of Lower Saxony. Inspection of the area and archaeological investigations revealed that the
site was located in a natural peatland region. A few more bones, fingernails and pieces of skin were found. Radio-
carbon dating gave an age of about 2,700 years (Iron Age). - The corpse that had recently occupied the murder
squad became an archaeological Sensation. This extraordinary case demonstrates once more the necessity for early
interdisciplinary co-operation between forensic medicine, anthropology and archaeology when investigating
unknown corpses and human remains which may have undergone a long period of decomposition.
Keywords: bog body, legal limit for postmortem, radiocarbon dating, identification, “Lindowman”, late corpse
decomposition
Werden Leichen oder Leichenteile nach offen-
sichtlich längerer Liegezeit aufgefunden, so wird
in der Regel die zuständige (Kriminal-)Polizei
tätig und die Rechtsmedizin hinzugezogen. So
auch im Jahr 2000, als das Hamburger Institut
für Rechtsmedizin mit einer Leichensache aus
dem angrenzenden Niedersachsen (Bereich der
Kriminalinspektion Nienburg) befasst wurde. Es
ging um die Untersuchung und Identifikation
einer Moorleiche.
Doch bevor die näheren Umstände dieses Fal-
les hier dargestellt werden, erfolgt ein Exkurs in
den Grenzbereich von Archäologie und Rechts-
medizin (vgl. Püschel et al. 2005, 2006).
Archäologie und Rechtsmedizin
Die enge Kooperation von Rechtsmedizin, Archä-
ologie und Anthropologie hat eine lange Tradition.
sondern eine archäologische Sensation
Police and forensic medicine on the wrong track - not a case for the murder squad
but an archaeological Sensation
Klaus Püschel, Anette Kettner und Eilin Jopp
Zusammenfassung: Mit Moorleichen haben Rechtsmediziner sehr selten zu tun. Gelegentlich werden Leichen von
Verunglückten oder beseitigten Opfern von Straftaten innerhalb des rechtsrelevanten Zeitraumes in einer Moor-
landschaft aufgefunden. - Als im Jahre 2000 im großen Uchter Moor (NW-Niedersachsen) ein fragmentierter
Leichnam beim Torfabbau aufgefunden wurde, kamen Polizei und Rechtsmedizin auf ungewöhnliche „Irrwege“.
Der Fund wurde zunächst im Kontext mit früheren Flugzeugabstürzen in dieser Region überprüft. Anthropolo-
gische und odontologische Befunde (Skelett einer jungen Frau, 16 - 20 Jahre alt) signalisierten dann Übereinstim-
mungen zu einer ungeklärten Vermisstensache aus dem Jahr 1969 in dieser Region. Die weiteren Ermittlungen
zogen sich dann sehr lange hin. Fragmentierte mitochondriale DNS war noch nachweisbar. Der Abgleich mit der
Mutter der vermissten Person ergab jedoch keine Übereinstimmung. - Anfang 2005 wurde dann in unmittelbarer
Nähe der ersten Leichenfundstelle bei Torfarbeiten die vollständig erhaltene rechte Hand der Moorleiche aufgefun-
den. Zur Klärung einer archäologischen Relevanz wurde von der Polizei jetzt das Landesamt für Denkmalpflege in
Hannover eingeschaltet. Weitere Begehungen und systematische Grabungen im Gelände ergaben, dass die Lei-
chenfundstelle im gewachsenen Hochmoortorf lag. Einige weitere kleine Knochen, Fingernägel und Hautstücke
wurden noch aufgefunden. Die Radiokarbondatierung ergab eine Leichenliegezeit von etwa 2.700 Jahren (Eisen-
zeit). - Aus dem Fall für die Mordkommission wurde somit eine archäologische Sensation. Der ungewöhnliche Fall
zeigt einmal mehr die Notwendigkeit einer frühzeitigen interdisziplinären Kooperation zwischen Rechtsmedizin,
Anthropologie und Archäologie bei Funden von Leichen bzw. Leichenteilen mit mutmaßlich längerer Liegezeit.
Schlagworte: Moorleiche, Liegezeitbestimmung, Radiokarbondatierung, Identifizierung, „Lindowman“, späte
Leichenveränderung
Abstract: The investigation of bog bodies does not belong to the routine work of forensic medicine. Occasionally
the corpses of victims of foul play or accidental death are found in a mire within the valid period for a criminal
investigation. - When the fragmentary bog body was discovered in the “Grosses Uchter Moor” in NW Lower
Saxony in the year 2000, both the police and forensic medicine were completely on the wrong track. In the first
instance this bog body was thought to be connected with a former aeroplane crash in this area.
The anthropological and odontological findings identified the person as a young woman between 16 and 20
years of age. The morphological results showed a similarity with a person who went missing in 1969; therefore
investigations concentrated on this aspect. The investigations lasted a long time. Mitochondrial DNA was sequenced
but did not match the mother of the missing person. - In 2005 a fully preserved hand was found close to the site of
the first discovery. In Order to exclude a possible archaeological Connection, the police contacted the State Service
for Cultural Heritage of Lower Saxony. Inspection of the area and archaeological investigations revealed that the
site was located in a natural peatland region. A few more bones, fingernails and pieces of skin were found. Radio-
carbon dating gave an age of about 2,700 years (Iron Age). - The corpse that had recently occupied the murder
squad became an archaeological Sensation. This extraordinary case demonstrates once more the necessity for early
interdisciplinary co-operation between forensic medicine, anthropology and archaeology when investigating
unknown corpses and human remains which may have undergone a long period of decomposition.
Keywords: bog body, legal limit for postmortem, radiocarbon dating, identification, “Lindowman”, late corpse
decomposition
Werden Leichen oder Leichenteile nach offen-
sichtlich längerer Liegezeit aufgefunden, so wird
in der Regel die zuständige (Kriminal-)Polizei
tätig und die Rechtsmedizin hinzugezogen. So
auch im Jahr 2000, als das Hamburger Institut
für Rechtsmedizin mit einer Leichensache aus
dem angrenzenden Niedersachsen (Bereich der
Kriminalinspektion Nienburg) befasst wurde. Es
ging um die Untersuchung und Identifikation
einer Moorleiche.
Doch bevor die näheren Umstände dieses Fal-
les hier dargestellt werden, erfolgt ein Exkurs in
den Grenzbereich von Archäologie und Rechts-
medizin (vgl. Püschel et al. 2005, 2006).
Archäologie und Rechtsmedizin
Die enge Kooperation von Rechtsmedizin, Archä-
ologie und Anthropologie hat eine lange Tradition.