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Klaus Püschel, Anette Kettner und Eilin Jopp
Die Disziplinen arbeiten zum Teil an ähnlichen
Fragestellungen sowie mit den gleichen wissen-
schaftlichen Methoden. Interdisziplinarität macht
Sinn bei der Rekonstruktion von Identität, Ab-
stammung, Krankheiten, Verletzungen und Tod
(Püschel & Jopp 2007). Insbesondere für die
Alters- und Geschlechtsbestimmung, die Rekons-
truktion von Lebensumständen und Krankheiten,
die zeitliche Einordnung aufgrund morpholo-
gischer und chemischer Veränderungen, die Dif-
ferentialdiagnose vitaler und postmortaler Ein-
flüsse und die spurenkundliche Auswertung von
Verletzungsdetails kann die Rechtsmedizin durch
ihre medizinisch-naturwissenschaftliche Heran-
gehensweise einen wichtigen Beitrag zur Interpre-
tation von historischen Fragestellungen und Be-
funden leisten. Disziplinen wie z.B. die Anthropo-
logie und Paläopathologie runden das Bild im
interdisziplinären Kontext ab (Berg et al. 1981).
Glanzpunkt dieser multiprofessionellen Koopera-
tion ist zweifelsohne das herausragende Werk von
Berg, Rolle & Seemann (1981) „Der Archäologe
und der Tod“. Als Lehr- und Nachschlagewerk mit
gerichtsmedizinischen Lehrinhalten vermittelt es
den Archäologen medizinische und naturwissen-
schaftliche Grundlagen kritischer Befund-Inter-
pretationen und den Rechtsmedizinern die sach-
kundige Herangehensweise an Knochen- bzw.
Skelettfunde mit aktuellem kriminalistischem Be-
zug. - Die Tradition der Arbeiten von Berg (1964,
1982) wurde in neuerer Zeit insbesondere von
Verhoff & Kreutz (2002, 2004) fortgeführt.
Andererseits hat vor allem auch Berg (1997)
wiederholt die gewichtige Bedeutung archäolo-
gischer Erfahrungen für die Rechtsmedizin her-
ausgestellt, Zitat: „Anhand verschiedener Fälle
wird auf die Bedeutung archäologischer Erfah-
rungen für die Praxis und Forschung in der
Rechtsmedizin hingewiesen. Dabei handelt es
sich zunächst um die Bewertung abnorm konser-
vierter Leichenfunde: Frostmumifikation, Moor-
gerbung und Fäulniskonservierung müssen auch
dem Rechtsmediziner geläufig sein, um Irrtümer
in der Zeitschätzung entsprechender Fälle zu ver-
meiden. Zur Altersbestimmung von Skelettfun-
den werden nach einer Literaturübersicht mit
neueren Arbeiten aus der prähistorischen For-
schung die Ergebnisse einer ...Studie der Alters-
schätzung ... mitgeteilt“ (Berg 1997:138f).
Wiederholt wurde bereits auf die in der Krimi-
nalgeschichte dargestellten Anekdoten um die
Moorleichenfunde im Lindow-Moor hingewiesen,
die die Polizei von Manchester beschäftigten
(Berg 1997; Brothwell 1996; Stead et al. 1986;
Püschel et al. 2005). Im Jahre 1983 wurde im
„Lindow Moss“ (Cheshire, England) ein weib-
licher Kopf aufgefunden, der nach Einschätzung
des zuständigen forensischen Pathologen zu einer
vermissten Frau passte. Ein Mann, dessen Garten
an das Lindow-Moor angrenzte, stand im Ver-
dacht, seine Frau umgebracht zu haben. Der ver-
dächtige Ehemann gestand das Tötungsdelikt. Die
14C-Datierung des Fundes ergab dann allerdings
eine Liegezeit von etwa 1.700 Jahren. Es handelte
sich um den Kopf einer männlichen Moorleiche
aus dem 2. bis 5. Jahrhundert. Einige Monate spä-
ter wurden unweit der ersten Fundstelle ein
menschlicher Fuß und ein Unterschenkel gefun-
den, später auch der dazugehörige Torso.
Rechtsmedizinische Aspekte
von Moorleichen
Kapitel über Moorleichen findet man in den Lehr-
büchern der Rechtsmedizin unter dem Thema
„späte Leichenveränderungen“ (diesbezügliche
Sonderform). Die hier mitgeteilten Erkenntnisse
gehen wiederum überwiegend auf Berg (z.B.
1975)zurück.
Dank der für organische Materialien günstigen
Erhaltungsbedingungen in Mooren sind bis in die
Gegenwart eine Reihe menschlicher Leichen oder
Leichenteile aus allen Epochen bekannt geworden.
Die Umstände, unter denen sie ins Moor gelangt
sind, wurden bisher nur unzureichend geklärt.
Dies trifft nicht nur für Leichen von Verunglückten
oder beseitigten Opfern von Straftaten innerhalb
des rechtsrelevanten Zeitrahmens zu, sondern ins-
besondere auf jene Moorleichen, die in einen histo-
rischen Kontext gestellt werden müssen.
Eine spezielle Schwierigkeit besteht darin, dass
eine eindeutige zeitliche Zuordnung allein auf-
grund des Erhaltungszustands der Leichenteile
nicht ohne weiteres möglich ist. Die für Moorlei-
chen typischen Veränderungen bilden sich offen-
sichtlich bereits wenige Jahre nach deren Einlage-
rung im Moormilieu aus. Dies zeigte sich u.a. bei
in Mooren aufgefundenen Militärpiloten des
2. Weltkriegs (z.B. Krause 2004). In diesen Fällen
haben Zeiträume von 5 bis 10 Jahren ausgereicht,
um die typische Moorleichenmorphologie entste-
hen zu lassen.
Die Haut der Personen ist infolge der Einla-
gerung in den (Hoch-) Mooren dunkelbraun bis
schwärzlich verfärbt, feucht und verformbar wie
weiches Leder. Die makroskopische Gestalt der
Knochen ist im Wesentlichen unverändert. Dabei
sind die Knochen biegsam, stark entkalkt und
mikromorphologisch noch gut differenzierbar.
Die Haare sind meist rötlich verfärbt. - Eine Ein-
schätzung der Leichenliegezeit ist oftmals nicht
Klaus Püschel, Anette Kettner und Eilin Jopp
Die Disziplinen arbeiten zum Teil an ähnlichen
Fragestellungen sowie mit den gleichen wissen-
schaftlichen Methoden. Interdisziplinarität macht
Sinn bei der Rekonstruktion von Identität, Ab-
stammung, Krankheiten, Verletzungen und Tod
(Püschel & Jopp 2007). Insbesondere für die
Alters- und Geschlechtsbestimmung, die Rekons-
truktion von Lebensumständen und Krankheiten,
die zeitliche Einordnung aufgrund morpholo-
gischer und chemischer Veränderungen, die Dif-
ferentialdiagnose vitaler und postmortaler Ein-
flüsse und die spurenkundliche Auswertung von
Verletzungsdetails kann die Rechtsmedizin durch
ihre medizinisch-naturwissenschaftliche Heran-
gehensweise einen wichtigen Beitrag zur Interpre-
tation von historischen Fragestellungen und Be-
funden leisten. Disziplinen wie z.B. die Anthropo-
logie und Paläopathologie runden das Bild im
interdisziplinären Kontext ab (Berg et al. 1981).
Glanzpunkt dieser multiprofessionellen Koopera-
tion ist zweifelsohne das herausragende Werk von
Berg, Rolle & Seemann (1981) „Der Archäologe
und der Tod“. Als Lehr- und Nachschlagewerk mit
gerichtsmedizinischen Lehrinhalten vermittelt es
den Archäologen medizinische und naturwissen-
schaftliche Grundlagen kritischer Befund-Inter-
pretationen und den Rechtsmedizinern die sach-
kundige Herangehensweise an Knochen- bzw.
Skelettfunde mit aktuellem kriminalistischem Be-
zug. - Die Tradition der Arbeiten von Berg (1964,
1982) wurde in neuerer Zeit insbesondere von
Verhoff & Kreutz (2002, 2004) fortgeführt.
Andererseits hat vor allem auch Berg (1997)
wiederholt die gewichtige Bedeutung archäolo-
gischer Erfahrungen für die Rechtsmedizin her-
ausgestellt, Zitat: „Anhand verschiedener Fälle
wird auf die Bedeutung archäologischer Erfah-
rungen für die Praxis und Forschung in der
Rechtsmedizin hingewiesen. Dabei handelt es
sich zunächst um die Bewertung abnorm konser-
vierter Leichenfunde: Frostmumifikation, Moor-
gerbung und Fäulniskonservierung müssen auch
dem Rechtsmediziner geläufig sein, um Irrtümer
in der Zeitschätzung entsprechender Fälle zu ver-
meiden. Zur Altersbestimmung von Skelettfun-
den werden nach einer Literaturübersicht mit
neueren Arbeiten aus der prähistorischen For-
schung die Ergebnisse einer ...Studie der Alters-
schätzung ... mitgeteilt“ (Berg 1997:138f).
Wiederholt wurde bereits auf die in der Krimi-
nalgeschichte dargestellten Anekdoten um die
Moorleichenfunde im Lindow-Moor hingewiesen,
die die Polizei von Manchester beschäftigten
(Berg 1997; Brothwell 1996; Stead et al. 1986;
Püschel et al. 2005). Im Jahre 1983 wurde im
„Lindow Moss“ (Cheshire, England) ein weib-
licher Kopf aufgefunden, der nach Einschätzung
des zuständigen forensischen Pathologen zu einer
vermissten Frau passte. Ein Mann, dessen Garten
an das Lindow-Moor angrenzte, stand im Ver-
dacht, seine Frau umgebracht zu haben. Der ver-
dächtige Ehemann gestand das Tötungsdelikt. Die
14C-Datierung des Fundes ergab dann allerdings
eine Liegezeit von etwa 1.700 Jahren. Es handelte
sich um den Kopf einer männlichen Moorleiche
aus dem 2. bis 5. Jahrhundert. Einige Monate spä-
ter wurden unweit der ersten Fundstelle ein
menschlicher Fuß und ein Unterschenkel gefun-
den, später auch der dazugehörige Torso.
Rechtsmedizinische Aspekte
von Moorleichen
Kapitel über Moorleichen findet man in den Lehr-
büchern der Rechtsmedizin unter dem Thema
„späte Leichenveränderungen“ (diesbezügliche
Sonderform). Die hier mitgeteilten Erkenntnisse
gehen wiederum überwiegend auf Berg (z.B.
1975)zurück.
Dank der für organische Materialien günstigen
Erhaltungsbedingungen in Mooren sind bis in die
Gegenwart eine Reihe menschlicher Leichen oder
Leichenteile aus allen Epochen bekannt geworden.
Die Umstände, unter denen sie ins Moor gelangt
sind, wurden bisher nur unzureichend geklärt.
Dies trifft nicht nur für Leichen von Verunglückten
oder beseitigten Opfern von Straftaten innerhalb
des rechtsrelevanten Zeitrahmens zu, sondern ins-
besondere auf jene Moorleichen, die in einen histo-
rischen Kontext gestellt werden müssen.
Eine spezielle Schwierigkeit besteht darin, dass
eine eindeutige zeitliche Zuordnung allein auf-
grund des Erhaltungszustands der Leichenteile
nicht ohne weiteres möglich ist. Die für Moorlei-
chen typischen Veränderungen bilden sich offen-
sichtlich bereits wenige Jahre nach deren Einlage-
rung im Moormilieu aus. Dies zeigte sich u.a. bei
in Mooren aufgefundenen Militärpiloten des
2. Weltkriegs (z.B. Krause 2004). In diesen Fällen
haben Zeiträume von 5 bis 10 Jahren ausgereicht,
um die typische Moorleichenmorphologie entste-
hen zu lassen.
Die Haut der Personen ist infolge der Einla-
gerung in den (Hoch-) Mooren dunkelbraun bis
schwärzlich verfärbt, feucht und verformbar wie
weiches Leder. Die makroskopische Gestalt der
Knochen ist im Wesentlichen unverändert. Dabei
sind die Knochen biegsam, stark entkalkt und
mikromorphologisch noch gut differenzierbar.
Die Haare sind meist rötlich verfärbt. - Eine Ein-
schätzung der Leichenliegezeit ist oftmals nicht