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Bauerochse, Andreas [Hrsg.]; Haßmann, Henning [Hrsg.]; Püschel, Klaus [Hrsg.]
"Moora" - Das Mädchen aus dem Uchter Moor: eine Moorleiche der Eisenzeit aus Niedersachsen (Band 37): "Moora" - das Mädchen aus dem Uchter Moor — Rahden/​Westf.: Verlag Marie Leidorf, 2008

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Schmidt-Häuer, Christian: Die Tote im Moor
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https://doi.org/10.11588/diglit.69460#0035
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Christian Schmidt-Häuer

nicht unbekannt, dass Moorleichen der krimina-
listischen Logik schon mal posthume Streiche
spielen können. Der Sauerstoffabschluss im Torf
lässt ihnen nicht ansehen, ob sie 30, 300 oder
mehr Jahre dort gelegen haben. Weil aber alles so
gut zu einem Kriminalfall passte, ließen die
Ermittler das moderne Instrument der Isotopen-
analyse ungenutzt.
Nun soll die Scharte ausgewetzt werden. Ge-
meinsam beschwören im August 2005 Gerichts-
mediziner und Kriminalbeamte, Archäologen
und Anthropologen in der Zeitschrift Rechtsme-
dizin die zweite Chance, die sie durch den nach-
träglichen Fund der Hand erhalten haben: „Eine
frühzeitige interdisziplinäre Kooperation . . .hätte
Irrungen und Wirrungen vermeiden lassen und
eine schnellere und professionelle Bearbeitung
dieses archäologisch bedeutsamen Fundes er-
möglicht. Viereinhalb Jahre nach dem Auffinden
der Moorleiche wird dieser Fall jetzt in enger
interdisziplinärer Zusammenarbeit wieder auf-
gearbeitet.“
Dazu haben sich Hassmann und Bauerochse
zunächst einmal ans Telefon hängen müssen, um
die Skelettteile aus den Instituten in Hamburg
und Göttingen wieder zusammenzuführen. Als
alles eingesammelt ist, reist das prähistorische
Wunderkind im Juni 2005 - jetzt im klimatisier-
ten Koffer bei 18 Grad und 50 Prozent Luftfeuch-
tigkeit - an sein 2.650 Jahre altes Grab zurück.
An der abgelegenen Fundstelle preisen Archäo-
logen und Anthropologen, Mediziner und Minis-
ter die wieder zusammengefügten Skelettteile als
einzigen weitgehend erhaltenen menschlichen
Körper aus der frühen Eisenzeit, der je im Euro-
pa diesseits der Alpen entdeckt wurde. Sie scheu-
en nicht einmal den Vergleich mit Ötzi, dem fast
5000 Jahre alten Schnalstaler Gletschermann.
Die Eventkultur lässt sich die Attraktion nicht
entgehen. Regionale Radio- und TV-Programme
des NDR animieren Hörer und Zuschauer, dem
Fundkind einen Namen zu geben. Vorschläge
kommen per E-Mail selbst aus Nord- und Süda-
merika, Asien und Afrika. Die medialen Wieder-
täufer einigen sich auf den Namen „Moora“. BILD
fragt „Wie starb Moora?“ und macht das Mäd-
chen zur Heldin eines Kurzromans. Frau im Trend
bekümmert sich: „Musste es sterben, weil es
Unzucht begangen hatte?“
Uchte hat andere Sorgen. Moora soll den Tou-
rismus ankurbeln. Bei ihrer Präsentation im
Moor ist die Lokalprominenz komplett angetre-
ten. Die Samtgemeinde rund 60 Kilometer süd-
lich von Bremen gehört mit ihren 15.000 Einwoh-
nern zu den strukturschwächsten Regionen
Deutschlands. Die Torfwerke wenigstens geben

Arbeit. Zwei sind noch übrig, das dritte hat vor
einigen Jahren geschlossen. Seine Felder müssen
rekultiviert, die Schienen der Torfloren abgebaut
werden. Die Kommunalkasse ist leer. Dieter
Sprado, der Direktor der Samtgemeinde, hat noch
vor dem sensationellen Fund eine Idee gehabt:
„Wir könnten eine Moorbahn für Touristen ein-
richten, Besuchern und Schulklassen den alten
Handtorfstich demonstrieren, ihnen die Pflan-
zenwelt und den Vogelschutz zeigen!“ Die kon-
servativen Kommunalpolitiker haben da gleich
die niedersächsischen Schädel geschüttelt und
die Daumen gesenkt.
Doch seit „das Mädchen“ Uchtes Moor be-
rühmt gemacht hat, wird Sprados Torfbahn von
einer großen Koalition angeschoben. Alle Wei-
chen sind jetzt gestellt, ein Infozentrum mit Cafe
kommt hinzu, auch ein Beobachtungsturm und
vielleicht in zwei, drei Jahren sogar Moora selbst.
In Silicon. Wenn sie mit Hilfe der Computerto-
mografie nachgebildet sein wird.
So ist Moora als Kind dieser Zeit auferstan-
den. Sie visualisiert die Heimatgeschichte. Sie
macht den Archäologen Hoffnung auf ein wenig
mehr Fördermittel. Dem Team, das Mooras Kar-
riere jetzt wissenschaftlich begleitet, fehlt es an
Sponsoren. Zwar bekam Lutz Stratmann, Nie-
dersachsens Minister für Wissenschaft und Kul-
tur, schon bei der Präsentation der archäologi-
schen Sensation die Frage gestellt: „Für Ötzi hat
man eine zweistellige Millionensumme aufge-
bracht. Wie viel werden Sie bereitstellen?“ Der
Minister zog sich hinter eine bescheidene, vage
Zusage zurück und hält sich seither bedeckt.
Dabei ist Niedersachsen das Land mit den
größten erhaltenen Mooren. Und Moore sind als
Geschichtsbuch der Erde unersetzlich. Sie haben
auf ihrem säurereichen und sauerstoffarmen
Grund ermordete, hingerichtete oder geopferte
Zeitzeugen konserviert, deren Schicksale gerade-
zu kriminalistische Rätsel aufgeben. Wie Sher-
lock Holmes und Dr. Watson im Dartmoor dem
„Hund von Baskerville“ nachspüren, sichern die
Detektive der Archäologie mit Pinsel, Mikroskop
und Isotopenanalysen die Spuren der Vergangen-
heit im Torf. Die Neugier auf die fernen Vorfahren
lockt die Menschen in die Museen. Es ist ein Stück
ihrer eigenen Identität, das die Moore bergen, die
seit 400 Millionen Jahren existieren und zu den
ältesten belebten Landschaften der Erde gehören.
Das Mädchen von Uchte ist der erste prähisto-
rische Fund in Niedersachsen überhaupt, seit Mit-
te des vergangenen Jahrhunderts die Bauern nicht
mehr mit Torfspaten, Haumessern und Stechern
ins Moor ziehen, um Brennmaterial zu gewinnen.
Längst werden die Felder vollautomatisiert abge-
 
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