34
Christian Schmidt-Häuer
Von Elke Kerll ist nur das ernste Gesicht auf dem
Passfoto geblieben, mit dem die Polizei nach ihr
gefahndet hat. Zwar liegen inzwischen auch
Lichtjahre zwischen den kriminaltechnischen
Ermittlungsmethoden von 1969 und denen von
heute. Doch wie einen möglichen Mörder entde-
cken, wenn das Opfer nicht zu finden ist? Wie
eine Fährte wieder aufnehmen, wo die Kripo vor
bald vierzig Jahren nicht einmal auf der Höhe
jener Zeit ermittelt hat - wie die alte Akte verrät?
Martin Lange, der Leiter des FK 1, lässt den Fall
jetzt noch einmal aufrollen - von jenem Mann,
der die Ermittlungen im Uchter Moor durch sei-
nen Anruf bei den Archäologen auf die richtige
Fährte brachte. Der 55-jährige Kriminalober-
kommissar Klaus-Dieter Schmidt, der seinen
Erfahrungsschatz hinter gelassener Umsicht ver-
birgt, hat einst in Elke Kerlls kurzem Frühling in
denselben Diskos getanzt. 17 Jahre war er damals
alt. Jeden Raum im Labyrinth der längst abgeris-
senen Schauburg kann er noch aufzeichnen.
Der Kommissar hat wieder auf gut Glück tele-
foniert. Wie nach dem Fund der Hand. Diesmal
hat er nicht den Rat der Archäologen gesucht,
sondern nach jenem Schlüssel zum Fall Elke Kerll,
der einst unbeachtet blieb. Das Schülerheim in
Loccum! Die nie befragten Mädchen, die über
eine Schwangerschaft Elkes möglicherweise mehr
wussten! Schmidt hat bei der Gemeinde ange-
fragt, ob noch Namen und Adressen der einstigen
Heimschüler existierten. „Wir haben vor Jahren
alles auf EDV umgestellt“, lässt ihn eine ältere
Dame wissen, die zufällig am Apparat ist. „Aber
die Schüler habe ich damals als Sachbearbeiterin
im Einwohnermeldeamt registriert. Und die alten
Karteikästen konnte ich nicht wegwerfen...“
Doch wird der Zufall dem Kommissar auch
weiter helfen? Jene Schülerin, die einst von Elke
Kerlls Sorge berichtete, ein Kind zu bekommen,
hat Schmidt bisher nicht ausfindig machen kön-
nen. Sie kam aus Hamburg und hatte sich damals
auch über Elkes Kenntnisse der Hansestadt ge-
wundert. Speziell über ihre Erzählungen aus dem
Szenelokal „Grünspan“ in St. Pauli. Von einem
besonderen Draht nach Hamburg wusste nach
Elkes Verschwinden auch der Freund Hans-Wil-
helm Vehrenkamp zu berichten: „Sie hat mir in
der letzten Nacht davon erzählt“, sagte er aus,
„dass sie jemanden aus Hamburg kenne, den sie
in Loccum gepflegt hätte. Ich weiß nicht, ob es
sich dabei um eine männliche oder weibliche Per-
son handelt. Angeblich hatte Elke die Möglich-
keit, bei dieser Person Urlaub zu machen...“.
Aber aus seiner eigenen Jugend im Nienburg
jener Jahre weiß Schmidt, dass es zumeist nur
wenige, kurze Abstecher in die Großstädte waren,
die Legenden und Phantasie der Schauburg-Gäs-
te beflügelten. Er geht davon aus, dass sich Elke
Kerll nicht „aus unserem Kreis abgesetzt“ hat,
wie es die Beamten noch in den siebziger Jahren
formulierten. Für ihn ist sie ganz in der Nähe
geblieben. Bedeckt von der Erde oder vom Torf -
wie Moora zuvor. „Und wenn ein Tötungsdelikt
vorliegt“, sagt Schmidt, „ist alles möglich.“ Als
Täter kämen dann auch damals befragte Zeugen
in Betracht. In einem solchen Fall wäre es immer-
hin möglich, dass ein Mitwisser die Gelegenheit
suchte, sein Gewissen zu erleichtern.
Auf diese Weise tastet sich der Kommissar
voran - wie im baumlosen Moor, ohne Anhalts-
punkte, die wenigen Sichtmarken im späten
Nebel verschwimmend. Und anders als der Torf-
stecher August Reckweg, der die erste Spur im
Moor fand, weil er sich voll auf seine Arbeit kon-
zentrierte, kann sich Schmidt nur am Rande um
den alten Fall kümmern. Die aktuellen Ermitt-
lungen haben Vorrang, Sexualdelikte, Brandstif-
tung, Kapitalverbrechen.
Bietet die Suche nach dem damals knapp 16-
jährigen Mädchen der Polizei überhaupt eine
zweite Chance - so wie sie die Wissenschaftler
durch Mooras Fund erhalten haben? Wem brin-
gen die Ermittlungen noch etwas? „Sie können
ja“, antwortet Klaus-Dieter Schmidt, „erst einge-
stellt werden, wenn ein möglicher Täter nicht
mehr leben kann.“ Immerhin hatten sie schon
dreißig Jahre geruht. Bis die Kriminologen im
Moor ein Irrlicht sahen.
So kehrt die durch den Zufall verbundene
Geschichte der beiden Mädchen die Zeit um. Was
Moora vor zweieinhalb Jahrtausenden widerfuhr,
werden die Mikrocomputertomografie, die Kon-
taktradiografie und andere Verfahren wohl relativ
bald aufdecken. Das Schicksal der Elke Kerll, die
in jenem Jahr verschwand, als der erste Mensch
den Mond betrat, kann keine dieser Erfindungen
aufklären. Dem Kommissar bleibt der alte Kartei-
kasten und die Hoffnung auf ein belastetes Gewis-
sen. Wenn sie trügt, wird es irgendwann wieder
still werden um das Mädchen aus Stolzenau und
das mutmaßliche Verbrechen an ihr. So still wie
im Moor, das jeden Schall dämpft.
Christian Schmidt-Häuer
Von Elke Kerll ist nur das ernste Gesicht auf dem
Passfoto geblieben, mit dem die Polizei nach ihr
gefahndet hat. Zwar liegen inzwischen auch
Lichtjahre zwischen den kriminaltechnischen
Ermittlungsmethoden von 1969 und denen von
heute. Doch wie einen möglichen Mörder entde-
cken, wenn das Opfer nicht zu finden ist? Wie
eine Fährte wieder aufnehmen, wo die Kripo vor
bald vierzig Jahren nicht einmal auf der Höhe
jener Zeit ermittelt hat - wie die alte Akte verrät?
Martin Lange, der Leiter des FK 1, lässt den Fall
jetzt noch einmal aufrollen - von jenem Mann,
der die Ermittlungen im Uchter Moor durch sei-
nen Anruf bei den Archäologen auf die richtige
Fährte brachte. Der 55-jährige Kriminalober-
kommissar Klaus-Dieter Schmidt, der seinen
Erfahrungsschatz hinter gelassener Umsicht ver-
birgt, hat einst in Elke Kerlls kurzem Frühling in
denselben Diskos getanzt. 17 Jahre war er damals
alt. Jeden Raum im Labyrinth der längst abgeris-
senen Schauburg kann er noch aufzeichnen.
Der Kommissar hat wieder auf gut Glück tele-
foniert. Wie nach dem Fund der Hand. Diesmal
hat er nicht den Rat der Archäologen gesucht,
sondern nach jenem Schlüssel zum Fall Elke Kerll,
der einst unbeachtet blieb. Das Schülerheim in
Loccum! Die nie befragten Mädchen, die über
eine Schwangerschaft Elkes möglicherweise mehr
wussten! Schmidt hat bei der Gemeinde ange-
fragt, ob noch Namen und Adressen der einstigen
Heimschüler existierten. „Wir haben vor Jahren
alles auf EDV umgestellt“, lässt ihn eine ältere
Dame wissen, die zufällig am Apparat ist. „Aber
die Schüler habe ich damals als Sachbearbeiterin
im Einwohnermeldeamt registriert. Und die alten
Karteikästen konnte ich nicht wegwerfen...“
Doch wird der Zufall dem Kommissar auch
weiter helfen? Jene Schülerin, die einst von Elke
Kerlls Sorge berichtete, ein Kind zu bekommen,
hat Schmidt bisher nicht ausfindig machen kön-
nen. Sie kam aus Hamburg und hatte sich damals
auch über Elkes Kenntnisse der Hansestadt ge-
wundert. Speziell über ihre Erzählungen aus dem
Szenelokal „Grünspan“ in St. Pauli. Von einem
besonderen Draht nach Hamburg wusste nach
Elkes Verschwinden auch der Freund Hans-Wil-
helm Vehrenkamp zu berichten: „Sie hat mir in
der letzten Nacht davon erzählt“, sagte er aus,
„dass sie jemanden aus Hamburg kenne, den sie
in Loccum gepflegt hätte. Ich weiß nicht, ob es
sich dabei um eine männliche oder weibliche Per-
son handelt. Angeblich hatte Elke die Möglich-
keit, bei dieser Person Urlaub zu machen...“.
Aber aus seiner eigenen Jugend im Nienburg
jener Jahre weiß Schmidt, dass es zumeist nur
wenige, kurze Abstecher in die Großstädte waren,
die Legenden und Phantasie der Schauburg-Gäs-
te beflügelten. Er geht davon aus, dass sich Elke
Kerll nicht „aus unserem Kreis abgesetzt“ hat,
wie es die Beamten noch in den siebziger Jahren
formulierten. Für ihn ist sie ganz in der Nähe
geblieben. Bedeckt von der Erde oder vom Torf -
wie Moora zuvor. „Und wenn ein Tötungsdelikt
vorliegt“, sagt Schmidt, „ist alles möglich.“ Als
Täter kämen dann auch damals befragte Zeugen
in Betracht. In einem solchen Fall wäre es immer-
hin möglich, dass ein Mitwisser die Gelegenheit
suchte, sein Gewissen zu erleichtern.
Auf diese Weise tastet sich der Kommissar
voran - wie im baumlosen Moor, ohne Anhalts-
punkte, die wenigen Sichtmarken im späten
Nebel verschwimmend. Und anders als der Torf-
stecher August Reckweg, der die erste Spur im
Moor fand, weil er sich voll auf seine Arbeit kon-
zentrierte, kann sich Schmidt nur am Rande um
den alten Fall kümmern. Die aktuellen Ermitt-
lungen haben Vorrang, Sexualdelikte, Brandstif-
tung, Kapitalverbrechen.
Bietet die Suche nach dem damals knapp 16-
jährigen Mädchen der Polizei überhaupt eine
zweite Chance - so wie sie die Wissenschaftler
durch Mooras Fund erhalten haben? Wem brin-
gen die Ermittlungen noch etwas? „Sie können
ja“, antwortet Klaus-Dieter Schmidt, „erst einge-
stellt werden, wenn ein möglicher Täter nicht
mehr leben kann.“ Immerhin hatten sie schon
dreißig Jahre geruht. Bis die Kriminologen im
Moor ein Irrlicht sahen.
So kehrt die durch den Zufall verbundene
Geschichte der beiden Mädchen die Zeit um. Was
Moora vor zweieinhalb Jahrtausenden widerfuhr,
werden die Mikrocomputertomografie, die Kon-
taktradiografie und andere Verfahren wohl relativ
bald aufdecken. Das Schicksal der Elke Kerll, die
in jenem Jahr verschwand, als der erste Mensch
den Mond betrat, kann keine dieser Erfindungen
aufklären. Dem Kommissar bleibt der alte Kartei-
kasten und die Hoffnung auf ein belastetes Gewis-
sen. Wenn sie trügt, wird es irgendwann wieder
still werden um das Mädchen aus Stolzenau und
das mutmaßliche Verbrechen an ihr. So still wie
im Moor, das jeden Schall dämpft.