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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 17.1974

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Nr. 2
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Fuhrmann, Manfred: Selbstbestimmung und Fremdbestimmung: ein motivgeschichtlicher Überblick
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https://doi.org/10.11588/diglit.33068#0031

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menschlichen Gattung notwendige Phase des Übergangs. „Die mannigfaltigen
Anlagen im Menschen zu entwickeln“, schreibt Schiller im 6. Brief über die
ästhetische Erziehung, „war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzu-
setzen. Dieser Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur.“
Und bald darauf heißt es: „Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das
Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit.“ Dann
aber gibt Schiller seinem Argument eine schier paradoxe, eine von seinen Nach-
folgern, von Marx und Marcuse, nicht übernommene Wendung: „Und in wel-
chem Verhältnis“, schreibt er zunächst, „stünden wir also zu dem vergangenen
und kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein
solches Opfer notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit ge-
wesen, wir hätten einige Jahrtausende die Sklavenarbeit für sie getrieben und
unserer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit
eingedrückt - damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggang seiner
moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs seiner Menschheit ent-
wickeln könnte!“ Und nunmehr folgt, durch den konjunktivischen Ausruf vor-
bereitet, die Wendung selbst: „Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein,
über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen? ... Es muß also falsch sein,
daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig
macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß
es bei uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat,
durch eine höhere Kunst wiederherzustellen.“
Eben diese Wiederherstellung erhoffte sich Schiller von seiner ästhetischen Er-
ziehung, von der Erziehung überhaupt. Hierzu bestimmten ihn vornehmlich
zwei Motive. Die französische Revolution hatte ihm gezeigt, daß der plötzliche
gewaltsame Umsturz eine zweifelhafte Auskunft sei; sie hatte ihm gezeigt, daß
die allzu rasche Durchsetzung von Idealen die physische Existenz der Gesell-
schaft und ihrer Mitglieder gefährden könne. „Wenn der Künstler an einem
Uhrwerk zu bessern hat“, schreibt er warnend im 3. Brief, „so läßt er die Räder
ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muß gebessert werden, indem
es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während des Umschwungs auszu-
tauschen.“ Doch stärker noch als durch die geschichtliche Erfahrung wurde Schil-
ler gewiß durch ein zweites Motiv bestimmt, in der Ochsentour der Erziehung
das einzige Heil zu suchen: durch seinen Glauben an die Würde der Person. Es
widerstrebte ihm, seine Geschichtsphilosophie zu radikalisieren; er mochte das
Individuum nicht gänzlich den ,Gesetzenc eines Prozesses aufopfern, er mochte
es nicht zum völligen Gefangenen der jeweiligen Situation erklären. Dieses Mo-
tiv läßt sich — abgesehen vom Ganzen des Erziehungsentwurfs — besonders
deutlich an den Darlegungen über den ,reinen moralischen Trieb" (sie finden sich
im 9. Brief) ablesen. Schiller greift dort auf die alte Unterscheidung von ethi-
schen und dianoetischen (d. h. intellektuellen) Fähigkeiten zurück; er beschränkt
das Problem der Selbst- und Fremdbestimmung, des epochebedingten Abfalls
von der Totalität auf die intellektuelle Sphäre. Nur sie ist der Zerstückelung
und Verkümmerung ausgesetzt (und hiergegen bedarf es des Palliativs der Er-
ziehung); von der ethischen Sphäre indes, vom ,reinen moralischen Triebe" gilt:
„(Er) ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft

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