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Gramsch, Robert; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Das Reich als Netzwerk der Fürsten: politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) 1225 - 1235 — Mittelalter-Forschungen, Band 40: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34756#0024

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1.2. Geschichte und Netzwerkanalyse: Eine methodische Einführung

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Dank seines ausgeprägten adligen Familienbewusstseins, verbunden mit einer intensiven
Sorge um die miwona seiner Verwandten und Freunde, war Thietmar ein Chronist, der
Verflechtungstatbeständen eine besonders große Aufmerksamkeit schenkte.^ Sein stark
assoziativer Argumentationsstil veranlasste ihn zudem häufig, bei der Ereignisschilde-
rung scheinbar unmotivierte Zusatznachrichten über die Bindungsverhältnisse zwischen
Akteuren einzuflechten.
Ein Beispiel dafür, wie Thietmar in seiner Geschichtserzählung oft kleine Netzwerke
konstruiert und in ihrem Wirken vorstellt, liefert seine Schilderung der Thronkandidatur
zuvor mit Markgraf Liuthar, der nach Darstellung der Chronik entscheidenden Anteil an
der Verhinderung der Thronkandidatur Ekkehards und der Anerkennung Heinrichs von
Bayern durch die Sachsen hatte, persönlich gesprochen haben. Die Erhebung zum Propst
muss zudem unter Einschaltung des Diözesans, Bischof Arnulf von Halberstadt, erfolgt sein,
welcher bei den Ereignissen ebenfalls eine Rolle spielte. Die Versammlung zu Werla, die
Ekkehards Scheitern besiegelte, fand etwa Mitte April 1002 statt.
4° Auf ein bemerkenswertes Zeugnis seiner familiären Pietät hat vor einigen Jahren CHRISTIAN
ScHUTTELS aufmerksam gemacht, vgl. DERS., Wiederentdeckte Verse Thietmars auf die Grab-
lege seiner Vorfahren in der Stiftskirche zu Walbeck, in: KARIN HEISE u.a. (Hgg.), Zwischen
Kathedrale und Welt: 1000 Jahre Domkapitel Merseburg. Katalogband (Schriftenreihe der Ver-
einigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, 1), Petersberg
2004, S. 48f. In seiner Chronik spricht Thietmar (nach eigener Zählung, R.G.) insgesamt 38
namentlich benannte Personen direkt als Verwandte an, darunter zwei Urgroßväter, sämtliche
Großeltern, 11 Verwandte 3. Grades, 15 Verwandte 4. Grades und einen Verwandten 5. Gra-
des, nämlich Herzog Hermann II. von Schwaben, einen weiteren Thronbewerber von 1002
(TC V/22: „HcrcHMHHMS Aor, mafn's /nee auMHCMÜ'Ji'h'Ms"). Hinzu kommen zwei namentlich nicht
Genannte sowie 14 Verwandte von zuvor als verwandt bezeichneten Personen. Insgesamt
überschaute Thietmar ein Verwandtennetzwerk von über 50 Personen, das zeitlich bis ins
erste Drittel des 10. Jahrhunderts hinaufreicht. Vgl. hierzu auch GERD ALTHOFF, Adels- und
Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung: Studien zum Totengedenken der
Billunger und Ottonen (Societas et fraternitas. Münster sehe Mittelalter-Schriften, 47), München
1984, S. 150 und 228-236; zur in der Regel nicht überragenden Reichweite des genealogischen
Gedächtnisses frühhochmittelalterlicher Adelsfamilien siehe auch etwa JOHANNES FRIED, Pro-
lepsis oder Tod? Methodische und andere Bemerkungen zur Konradiner-Genealogie im 10.
und frühen 11. Jahrhundert, in: JOACHIM DAHLHAUS / ÄRMiN KoHNLE (Hgg.), Papstgeschichte
und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag (Beiheft zum
Archiv für Kulturgeschichte, 39), Köln / Wien / Weimar 1995, S. 69-119, hier: S. 82ff., sowie
nunmehr GERHARD LuBiCH, Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im
Frühmittelalter (6.-11. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien 2008.
44 Gemäß der von Wolfgang Christian Schneider entwickelten Typologie der kognitiven Ord-
nungsmuster, welche in der ottonenzeitlichen Historiograpie begegnen, ist diese Darstel-
lungsweise Ausdruck eines pcrsozzaZ-rUHizozzaUz: VcrshTzczzs, welches Personen wesentlich über
deren Einbindung in Personengeflechte definiert und einzelne Handlungen als Elemente eines
quasi automatisch ineinander greifenden Handlungsgefüges erzählerisch entwickelt. Es liegt
auf der Hand, dass diese Verstehensform, die nach Schneider ein entwicklungsgeschichtlich
frühes kognitives Ordnungsmuster darstellt, mit dem netzwerkanalytischen Paradigma viel
zu tun hat. Somit können Schneiders Ausführungen, auch wenn der Netzwerkbegriff in ihnen
fehlt, grundsätzlich eine Stütze der hier vertretenen Annahme bilden, dass das Denken und
Handeln in Verflechtungskategorien auch dem mittelalterlichen Menschen im hohen Maße
eigen war. Vgl. WoLFGANG CHRISTIAN SCHNEIDER, Ruhm, Heilsgeschehen, Dialektik. Drei
kognitive Ordnungen in Geschichtsschreibung und Buchmalerei der Ottonenzeit (Histori-
sche Texte und Studien, 9), Hildesheim 1988, insbes. S. 40-100; dazu ScHULMEYER-AHL, Der
Anfang, S. 141ff., die freilich die Bedeutung der personal-relationalen Verstehensform im
Werk Thietmars gegenüber anderen kognitiven Ordnungsmustern meines Erachtens zu stark
herabsetzt.
 
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