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VI
1 MODERNE BAUFORMEN
MONATSHEFTE FÜR ARCHITEKTUR
EDGAR WOOD
VON MICHAEL BUNNEY-LONDON
Kein ausübender Künstler, der in der letzten
Hälfte des neunzehnten und zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts in England gelebt hat,
konnte sich dem Einfluss der umwälzenden Anschau-
ungen in der Architektur entziehen, die das Viktoria-
nische Zeitalter kennzeichnen. In verschiedener
Weise hat sich dieser Einfluss von dem ersten
grossen Anstoss an, den das Wiedererwachen der
Gotik gebracht hat, geltend gemacht, während all
der mannigfachen ästhetischen Erscheinungsformen,
der Morrisepoche, PArt nouveau, des Voyseykultus,
und schliesslich auch bei dem, was unsere Tage,
Neues erdenkend oder auf der Fährte des Her-
gebrachten wandelnd, geschaffen haben. Mehr oder
minder gerieten alle unter den Bann: Der leiden-
schaftliche Parteigänger, vor dessen Augen nichts
Gnade findet, was nicht aus der eignen Schule her-
vorgegangen ist, wie der gleichgültige Praktiker
ohne grosses Talent und ohne hohen Flug, der
nach einem Stil oder doch nach etwas Stilartigem
sucht, das seinen Bedürfnissen am besten entspricht
und das die geringsten Ansprüche an seinen Fleiss
und an seine Tätigkeit stellt. Nachdem er einmal
angefangen hat, will er blindlings darauf losarbeiten,
ohne sich bei einer neu aufkommenden Geschmacks-
richtung grosse geistige Anstrengungen zuzumuten.
V Andrerseits war dieses gewaltige Ringen nach
einer neuen künstlerischen Ausdrucksweise bald voll
Leidenschaft und Temperament, bald voll Tiefe und
Gelassenheit, doch darum nicht minder kraftvoll;
für empfängliche Geister geradezu das Herzblut
ihrer Kunst. Auf diesem Grunde erwuchsen die
besten modernen Arbeiten; mögen sie auch hier
und da, vom akademischen Standpunkt aus be-
trachtet, in der Tat nicht vollkommen sein, so sind
sie dreifach kostbar, weil sich gerade in ihren
Unvollkommenheiten die Spuren jenes Ringens
offenbaren. In der Geschichte der Kunst wird es
kein fesselnderes Blatt geben, als das, auf dem
diese gewaltigen Regungen verzeichnet sind, im Ver-
gleich mit denen die Fortentwicklung unserer Zeit
geradezu schwächlich genannt werden muss. V
V Darin, dass er das Beste, was diese Bewegungen
lehren konnten, aufnahm und ihren Geist mit allem
verwob, was seiner Hand entsprang, liegt der Keim
zu Woods Erfolgen als Architekt. Sein Eklektizis-
mus — wenn man diesen Ausdruck überhaupt auf
seine Arbeiten anwenden darf — war der denkbar
höchststehende; denn stets war er ebenso bereit
wie fähig zur rechten Wertschätzung der verschie-
denen Kunstauffassungen, mochten diese der Ver-
gangenheit angehören oder von Zeitgenossen aus-
gehen. Erlernte mit seinerzeit! Damit soll nicht
gesagt werden, dass er nicht ein durchaus originaler
Geist sei — alle seine Werke sind durchaus sein
Eigentum und zeugen von einer schöpferischen
Kraft ersten Ranges. Die daraus sich ergebende
Vortrefflichkeit seiner Arbeiten reiht sie ohne wei-
teres nach Stil und Ausführung in die zeitgenössi-
schen Meisterwerke ein. V
V Wood hat erkannt, dass man die Individualität
nicht zu weit treiben soll, dass die Architektur und
in gewissem Masse jede Kunst nur in beschränk-
tem Sinne lokal sein darf und dass die ausführen-
den Künstler Fühlung untereinander haben müssen,
um die Tradition der britischen Hausarchitektur
lebendig zu erhalten, wenn anders eine gedeihliche
Weiterentwicklung möglich sein soll. Er stimmt
auch der Ansicht bei, dass das Sachliche, das Zu-
rückhaltende und das Stattliche an einem Werk,
und mag es auch noch so bescheiden sein, einen
machtvolleren, echteren und dauernderen künstle-
rischen Einfluss ausübt als die zufälligen Phan-
tastereien jener auf unbedingte Originalität bedach-
ten Künstler, deren Welt nur zu oft ausschliesslich
ihre eigene ist. V
V Es mag darauf hingewiesen werden, dass ihn
beständig eine Neigung zum Einfachen leitet, sowie
die Absicht, lokale Baumittel in der landesüblichen
Weise zu verwenden, so dass die Wirkung seiner
VI
1 MODERNE BAUFORMEN
MONATSHEFTE FÜR ARCHITEKTUR
EDGAR WOOD
VON MICHAEL BUNNEY-LONDON
Kein ausübender Künstler, der in der letzten
Hälfte des neunzehnten und zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts in England gelebt hat,
konnte sich dem Einfluss der umwälzenden Anschau-
ungen in der Architektur entziehen, die das Viktoria-
nische Zeitalter kennzeichnen. In verschiedener
Weise hat sich dieser Einfluss von dem ersten
grossen Anstoss an, den das Wiedererwachen der
Gotik gebracht hat, geltend gemacht, während all
der mannigfachen ästhetischen Erscheinungsformen,
der Morrisepoche, PArt nouveau, des Voyseykultus,
und schliesslich auch bei dem, was unsere Tage,
Neues erdenkend oder auf der Fährte des Her-
gebrachten wandelnd, geschaffen haben. Mehr oder
minder gerieten alle unter den Bann: Der leiden-
schaftliche Parteigänger, vor dessen Augen nichts
Gnade findet, was nicht aus der eignen Schule her-
vorgegangen ist, wie der gleichgültige Praktiker
ohne grosses Talent und ohne hohen Flug, der
nach einem Stil oder doch nach etwas Stilartigem
sucht, das seinen Bedürfnissen am besten entspricht
und das die geringsten Ansprüche an seinen Fleiss
und an seine Tätigkeit stellt. Nachdem er einmal
angefangen hat, will er blindlings darauf losarbeiten,
ohne sich bei einer neu aufkommenden Geschmacks-
richtung grosse geistige Anstrengungen zuzumuten.
V Andrerseits war dieses gewaltige Ringen nach
einer neuen künstlerischen Ausdrucksweise bald voll
Leidenschaft und Temperament, bald voll Tiefe und
Gelassenheit, doch darum nicht minder kraftvoll;
für empfängliche Geister geradezu das Herzblut
ihrer Kunst. Auf diesem Grunde erwuchsen die
besten modernen Arbeiten; mögen sie auch hier
und da, vom akademischen Standpunkt aus be-
trachtet, in der Tat nicht vollkommen sein, so sind
sie dreifach kostbar, weil sich gerade in ihren
Unvollkommenheiten die Spuren jenes Ringens
offenbaren. In der Geschichte der Kunst wird es
kein fesselnderes Blatt geben, als das, auf dem
diese gewaltigen Regungen verzeichnet sind, im Ver-
gleich mit denen die Fortentwicklung unserer Zeit
geradezu schwächlich genannt werden muss. V
V Darin, dass er das Beste, was diese Bewegungen
lehren konnten, aufnahm und ihren Geist mit allem
verwob, was seiner Hand entsprang, liegt der Keim
zu Woods Erfolgen als Architekt. Sein Eklektizis-
mus — wenn man diesen Ausdruck überhaupt auf
seine Arbeiten anwenden darf — war der denkbar
höchststehende; denn stets war er ebenso bereit
wie fähig zur rechten Wertschätzung der verschie-
denen Kunstauffassungen, mochten diese der Ver-
gangenheit angehören oder von Zeitgenossen aus-
gehen. Erlernte mit seinerzeit! Damit soll nicht
gesagt werden, dass er nicht ein durchaus originaler
Geist sei — alle seine Werke sind durchaus sein
Eigentum und zeugen von einer schöpferischen
Kraft ersten Ranges. Die daraus sich ergebende
Vortrefflichkeit seiner Arbeiten reiht sie ohne wei-
teres nach Stil und Ausführung in die zeitgenössi-
schen Meisterwerke ein. V
V Wood hat erkannt, dass man die Individualität
nicht zu weit treiben soll, dass die Architektur und
in gewissem Masse jede Kunst nur in beschränk-
tem Sinne lokal sein darf und dass die ausführen-
den Künstler Fühlung untereinander haben müssen,
um die Tradition der britischen Hausarchitektur
lebendig zu erhalten, wenn anders eine gedeihliche
Weiterentwicklung möglich sein soll. Er stimmt
auch der Ansicht bei, dass das Sachliche, das Zu-
rückhaltende und das Stattliche an einem Werk,
und mag es auch noch so bescheiden sein, einen
machtvolleren, echteren und dauernderen künstle-
rischen Einfluss ausübt als die zufälligen Phan-
tastereien jener auf unbedingte Originalität bedach-
ten Künstler, deren Welt nur zu oft ausschliesslich
ihre eigene ist. V
V Es mag darauf hingewiesen werden, dass ihn
beständig eine Neigung zum Einfachen leitet, sowie
die Absicht, lokale Baumittel in der landesüblichen
Weise zu verwenden, so dass die Wirkung seiner