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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 6.1907

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Nr. 2
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Widmer, Karl: Entwicklungstendenzen des modernen Stadthauses
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https://doi.org/10.11588/diglit.23633#0127
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ENTWICKLUNGSTENDENZEN DES MODERNEN STADTHAUSES
VON PROF. KARL WIDMER, KARLSRUHE

Das Mittelalter kannte nur eine Form des Bürger-
hauses. Es war Wohn- und Geschäftshaus,
Etagen- und Einfamilienhaus zugleich. Dieses Haus
war ursprünglich aus dem germanischen Bauernhaus
hervorgegangen und hatte sich den Bedingungen
des städtischen Lebens angepasst. Aus dem niedern
Landhaus war auf dem engen Boden des ummauerten
Stadtbezirks das hohe und schmale Stadthaus ge-
worden. Das Bedürfnis, weitere Grundformen aus-
zubilden, lag nicht in dem Wesen der Zeit. Die
Gilde schuf eine Art sozialer Gleichheit, die auch in
der Gleichförmigkeit des Wohnhauscharakters zum
Ausdruck kam. Auch der Gegensatz der patrizischen
Kaufmannschaft zum demokratischen Handwerker-
tum brachte keine besondern Arten des Bürger-
hauses hervor. Volk und Bürgeradel bauten, wenn
auch mit verschiedenem Aufwand an Raum und an
Kostbarkeit der Ausstattung, im wesentlichen gleich.
Bei dem handwerklichen Charakter des Gewerbes,
das keinen Grossbetrieb mit Maschinen kannte und
kein Massenproletariat abhängiger Lohnarbeiter er-
zeugte, war eine Trennung der Werkstätte vom
Wohnhaus, der Arbeiterwohnung vom Haus des
Brotherrn unnötig. Jeder Familienvater war selb-
ständiger Meister, und jeder Meister besass sein
eigenes Haus. Gesellen und Lehrlinge wohnten als
erweiterte Familie im Haus des Meisters. Die Not-
wendigkeit, das städtische Leben in den schützen-
den Kreis der Stadtmauer zusammenzudrängen,
setzte auch dem Luxus des Wohnens bestimmte
Grenzen. Es gab zwar keine Proletarierquartiere
und keine Fabrikvorstädte; aber auch keine vor-
gärtengeschmückten, dem Lärm und der Enge der
innern Stadtteile entrückten Villenviertel. V
V Die Gleichmässigkeit im Gesamtcharakter der
Wohnhäuser kehrt auch in den öffentlichen Bauten
der mittelalterlichen Stadt wieder: auch das Rat-
haus, das Zunfthaus sind erweiterte Bürgerhäuser.
Dennoch wurde diese Gleichmässigkeit nicht ein-
förmig, denn sie wurde durch eine um so grössere
Vielgestaltigkeit des einzelnen Hauses im Rahmen
der allgemeinen Grundform wieder ausgeglichen.
Im Innern war das Haus eine Welt im Kleinen.
Als persönlicher, von Geschlecht zu Geschlecht
forterbender Eigenbesitz wurde es Gegenstand einer
individuellen Durchbildung, die auch der äussern
Erscheinung jedes Hauses einen durchaus persön-

lichen Charakter verlieh. Gebundenheit in der
Grundform, Eigenart im einzelnen, das ist der
Charakter des mittelalterlichen Stadthauses. Unser
heutiges Leben drängt nach dem Gegenteil. Durch
die komplizierteren Bedürfnisse der modernen Kul-
tur ist ein grösserer Reichtum an Grundformen
entstanden. Dafür hat das einzelne Haus seine
Originalität verloren. Der Differenzierung und
Spezialisierung entspricht auch die Nivellierung.
Das ist überhaupt die Tendenz unserer heutigen
Entwicklung. V
V Zunächst ist durch die Bedürfnisse des wirt-
schaftlichen und technischen Fortschritts eine Reihe
neuer Zweckformen nötig geworden. Elemente, die
das mittelalterliche Haus vereinigt hatte, trennen
sich und wachsen sich zu selbständigen Organismen
aus. Die Werkstätte erweitert sich zur Maschinen-
halle, zum Giesswerk u. s. w. und löst sich vom
Wohnhaus los. In dem hohen Schornstein entsteht
ein neues architektonisches Element, mit dem das
Feuer, die treibende Kraft des Innern auch dem
Aeussern des Hauses das Wahrzeichen seiner Be-
stimmung gibt. Um die weiten Arbeitsräume zu
belichten, muss sich die Mauer oder das Dach in
grosse Lichtquellen auflösen. Ihre Konstruktion
beruht auf der Verbindung zweier Stoffe, deren
Verwendung in dieser Form und Grösse ebenfalls
eine Schöpfung unserer materiellen Kultur ist:
Eisen und Glas. Aus Eisen und Glas entwickelt
sich ein neuer Baustil, dem die technischen An-
lagen des modernen Verkehrs und der modernen
Industrie: Fabriken, Bahnhöfe, Markthallen und
dergleichen, die grossen Aufgaben stellen. V
V Wie die Industrie, so hat sich der Handel im
modernen Kaufhaus seine eigene Zweckform ge-
schaffen. Die selbständigste und in ihrer Art voll-
endetste Ausbildung dieser neuen Form ist das
grossstädtische Warenhaus. V
V Im Mittelalter hatte der Zunftzwang der Ent-
faltung der Konkurrenz enge Schranken gesetzt.
Der Kaufmann hatte die heutigen Mittel der Waren-
anbietung nicht nötig, um sich im Kampf ums Da-
sein behaupten zu können. Er konnte seine Vor-
räte im Innern des Hauses verschliessen; heute
muss sich der Inhalt des Ladens in verführerischen
und auffallenden Auslagen schon dem Blick des
Vorübergehenden aufdrängen. Damit bekommt das
 
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