Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

Citation link:
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/monatshefte_kunstwissenschaft1911/0123

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
schiedenen künstlerischen Entwicklungsstufen an. Ein Teil mag erst für den Druck,
also um 1475, entworfen worden sein, ein anderer Teil macht einen viel älteren
Eindruck, man glaubt Kopien von geringen Federzeichnungen aus der Mitte des
XV. Jahrhunderts vor sich zu sehen. Das Verhältnis des Hausbuchmeisters zu
seiner Vorlage mußte also je nach deren Beschaffenheit wechseln. Ganz so wie
sie war, konnte er keine einzige übernehmen. So trugen viele Richelschen Per-
sonen eine Tracht, die längst nicht mehr modern war. Der Hausbuchmeister
steckt sie darum in die Kleider, die zu seiner Zeit getragen wurden. Er streckt
die meist untersetzten Menschen seiner Vorlage, gibt ihnen längere Beine und
macht sie im ganzen schlanker, wie es sein Geschmack war. Künstlerische Kritik
übt er an jedem Richelschen Holzschnitt, indem er ihn umzeichnet. Es gibt da
eine Menge Möglichkeiten. Oft kann er von dem alten Holzschnitt überhaupt
nichts mehr gebrauchen, es entsteht dann eine Komposition, bei der auch nicht
das Geringste mehr an jenen erinnert. In einem anderen Falle ist die alte Vor-
lage im ganzen gut, nur die Einzelheiten müssen alle umgestaltet werden. In
einem dritten Falle gefallen ihm gewisse Einzelheiten, er behält sie bei, verändert
aber die Gesamtanlage völlig. Aber mag er sich bisweilen auch noch so stark an
das Alte anlehnen, bei dem Umgießen in die neue Form kommt doch immer etwas
heraus, was den Gedanken an ein vorhandenes fremdes Vorbild, wenn man dies
nicht zufällig kennt, kaum einmal aufkommen läßt. Diese neuen Holzschnitte
sprechen eben, mit wenigen Ausnahmen, die unverfälschte Sprache unseres Meisters.
Es hindert uns nichts, sie seinen Originalschöpfungen, den Stichen und Gemälden,
an die Seite zu stellen. Wenn man die Richelschen Holzschnitte betrachtet und
dann sieht, was unter den Händen des Meisters aus ihnen geworden ist, muß man
oft über seine Gestaltungskraft staunen. Steif und ungelenk, wie Gliederpuppen,
stehen die Gestalten bei Richel da, und zu lebendigen Menschen sind sie bei Drach
geworden. Anstatt der früheren Gemessenheit und Zurückhaltung in den Be-
wegungen, anstatt der geringen Gebärdensprache und des Mangels an seelischem
Empfinden finden wir nun eine Freiheit und Natürlichkeit, ja Zwanglosigkeit der
Bewegungen, einen Reichtum an Ausdruck in den Gesichtern und Händen, eine
Treffsicherheit in der Zeichnung einzelner Charaktere, eine Menge von reizvollen
Einzelheiten, einen bis dahin bei religiösen Gegenständen nicht gekannten Zug zum
Weltlichen, einen bei jeder Gelegenheit durchbrechenden Humor, Dinge, die wir
auch bei den größten Zeitgenossen unseres Künstlers in dieser Vereinigung nicht
wieder antreffen.
Man darf wohl als sicher annehmen, daß der Meister seine neuen Holzschnitte
in derselben Reihenfolge entworfen hat, wie er sie bei Richel fand. Nun ist auch
der größte Künstler ein Mensch wie jeder andere, der seine guten und schlechten
Tage und Stunden hat. In unserm Falle handelt es sich um die Erledigung
eines Auftrages, der so eng begrenzt war, daß er gerade einem gern frei schaffenden
Künstler, wie es der Hausbuchmeister jedenfalls gewesen ist (seine Stiche be-
zeugen es), nicht ganz nach dem Herzen sein konnte. Er mag die Sache mit
ihrem fortwährenden Zwange allmählich satt bekommen und gegen das Ende zu
nicht mehr mit derselben Lust und Liebe, derselben lebhaften Phantasie wie im
Anfang gearbeitet haben. Kurzum, die letzten Holzschnitte zeigen ein Nachlassen
der Gestaltungskraft. Sie sind leider auch zugleich die am schlechtesten geschnittenen.
Auf sie werden gewiß die, die nicht recht daran glauben wollen, daß der Haus-
buchmeister der Zeichner sämtlicher Holzschnitte des Heilsspiegels ist, besonders
hinweisen. Aber man kann derartige Zweifel sofort entkräften, wenn man auf die

109
 
Annotationen