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Eine Schaffhausener Leinenstickerei mit den »Weiberlisten« im
Historischen Museum zu Bern
Von Betty K u r t h
Die Vorliebe für bestimmte seltene gegenständliche Motive erscheint häufig, im Rahmen einer beson-
deren Kunstgattung, an einen stilgeschichtlich fest umgrenzten Kulturkreis gebunden. Die Textilkunst des
alemannischen Sprachgebietes im allgemeinen, des Oberrheins im besonderen hat in ihrem ikonographischen
Programm unter anderem die Darstellung der „Weiberlisten" bevorzugt, jener Szenen, die Ränke biblischer
und sagenberühmter Frauen zum Gegenstand haben, wie sie, Proteste des schwachen Geschlechts gegen die
Höherbewertung des Mannes, oft in der Literatur des Mittelalters geschildert werden. Die häufigsten Dar-
stellungen sind: Adam und Eva, Simson und Dalila, David und Bathseba, Judith und Holofernes, Salomon
und die Königin von Saba, Aristoteles und Phyllis, Paris und Helena, Vergil im Korbe.
Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts fanden sich am Oberrhein unter den leider größtenteils zerstörten
Fresken des Weberhauses in Konstanz viele dieser Szenen1, die, in der Folgezeit dem Bilderkreis der Textil-
kunst einvcrleibt, auf gestickten und gewirkten Bildteppichen, auf Tischtüchern und Behängen, auf Decken
und Kissenblättern mehrere Jahrhunderte lang ihre illustrative Schlagkraft erweisen. Zwei hervorragende
gestickte Wandbehänge des 14. Jahrhunderts mit den Wappen oberrheinischer Geschlechter, früher im Kloster
Adelhausen, jetzt im Augustinermuseum zu Freiburg i. Br., sind mit Darstellungen der „Weiberlisten" ge-
schmückt". Und denselben Stoff zeigen: ein gewirktes Rücklaken im Historischen Museum zu Basel3, eine
Schweizer Wollstickerei von 1522 im Zürcher Landesmuseum u. a. m.
Durch eine Schenkung Fritz Ikles, des feinsinnigen Sammlers und Textilkenners in St. Gallen, wurde
kürzlich das Berner Historische Museum um eine gotische Leinenstickerei hervorragender Qualität bereichert,
die ebenfalls mit Motiven aus dem besprochenen Bilderkreis verziert ist. Der Streifen aus weißem Leinenstoff
ist 3,45 m lang, 0,47 m breit, mit weißen und gelbbraunen Leinenfäden in Platt-, Kreuz- und Stilstich und dem
für oberrheinische Weißstickereien bezeichnenden, lose über dem Grundgewebe seine Muster bildenden
Spitzenstich bestickt. Die zu Seiten des mittleren Wappenfeldes gegenständig angeordneten Darstellungen
lassen des Werkes Bestimmung als Tischläufer erkennen. Zwischen schön geschwungenen gotischen Ranken
erscheinen in Medaillons vier Szenen: Simson, im Schoße Dalilas ruhend, die mit einer großen Schere seine
Haare schneidet (Abb. 1), Judith mit dem Haupte des Holofernes, das sie in einen von der Magd gereichten
Sack tut, im Hintergrund ist die Leiche des Ermordeten in einem Zelte sichtbar (Abb. 2), der unter dem
Fenster der listigen Schönen hängende, verliebte Vergil (Abb. 3) und Phyllis, die den weisen Aristoteles zum
Reittier entwürdigt (Abb. 4).
1 Nur mehr in Pausen in der Konstanzer Wessenbergsammlung erhalten. Vgl. Hertha Wienecke, Konstanzer
Malereien des 14. Jahrhunderts. Diss. Halle a. d. S. 1912. S. 24.
- Hermann Schweitzer, Die Bildteppiche in der städtischen Altertümersammlung zu Freiburg i. Br. Schauinsland
XXXI. Jahrlauf 1904.
3 F ü h r e r durch das Historische Museum, Basel. — Rudolf B u f c k h a r d t, Wandbehang mit Liebesgarten, Beilage
zum Jahresbericht des Hist. Museums. 1921. S. 10. — Idem, Gewirkte Bildteppiche des 15. und 16. Jahrhunderts. Leipzig
1925. S. 16. - ■ Betty K u r t h , Die Deutschen Bildteppiche des Mittelalters. Wien 1926. Bd. I, S. 104, 221 ; Bd. II, Taf. 69 b.

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