DAS MITTELALTERBILD IN DER MUSIK
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schungen auf dem Gebiete des Gregorianischen Chorals weiter und die Editio Vaticana
wurde nach dem zweiten Vatikanischen Konzil in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhun-
derts durch eine jetzt gültige noch ursprünglichere Version der Choräle (z.T. mit Varian-
tenabdruck mit roten Neumen) ersetzt. Thibaut hätte seine Freude an dieser von ihm mit-
initiziierten Entwicklung gehabt.
Thibaut wäre nicht der begeisterte und begeisternde Leiter seines Singkreises mehr-
stimmiger alter Musik, wenn er in seinem Kapitel über den Choral nicht doch von mehr-
stimmiger Ausführung des geliebten Lutherchorals durch die Gemeinde selbst träumen
würde. Die bestehenden mehrstimmigen Choräle, vor allem die Bachischen, sind zu kom-
pliziert. Man müßte die Choräle neu einrichten, und zwar als einen vierstimmigen Gesang
der Gemeinden... als höchst einfache Gesänge, so viel als möglich in reinen Dreyklängen.
Und nun kommt er zu einer hoffentlich bald wieder aktuellen Formulierung: Ist nämlich
ein Volk sinnig und fromm; hält es den Sonntag heilig; sind ihm gute musikalische Anla-
gen gegeben; nehmen sich von allen Seiten würdige Geistliche der Verbesserung des Kir-
chengesanges an; stehen ihnen tüchtige Tonkünstler mit Rath und That zur Seite; und wen-
det man auf den musikalischen Unterricht in den Volksschulen vorzüglichen Fleiß, -
welches alles jetzt im Königreich Württemberg auf eine höchst erfreuliche Weise der Fall
ist <sic!>: so kann ein guter vierstimmiger Gesang der Gemeinden als sehr möglich gedacht
werden, und die Erreichung dieses Zieles wäre für musikalische Harmonie, und Benutzung
der individuellen Kräfte aller Gemeindeglieder, von großer Bedeutung^.
4. Die alten Meister der Mehrstimmigkeit, insbesondere der
Kirchenmusik. Palestrina als deren Gipfel (a-capella-Stif)
Es stellt sich natürlich die Frage, ob in der Kirche schicklicherweise noch andere Musik
zum Erklingen gebracht werden darf als im katholischen Raum der einstimmige Grego-
rianische Choral bzw. im evangelischen Raum das einstimmige lutherische Kirchenlied.
Thibaut denkt hier eigentlich sehr streng und kategorisch, also keine Mehrstimmigkeit
in der Kirche, hat nun aber doch seine ergreifende Erfahrung mit den mehrstimmigen
Werken der alten Meister im Sinn, die er in seinem Singkreis als so makellos, hochqua-
lifiziert und seelenbewegend erlebt hat bzw. immer wieder erlebt. Hier leuchtet der in
der Geschichte der Kirchenmusik bekanntlich alte Streit auf, ob die Kirche in ihren
Mauern eine Musik zulassen darf, die von solchem Charakter und von solcher Qualität
ist, daß sie die Herzen der Zuhörer womöglich allzusehr erfüllt und den Andächtigen
stören könnte. Die erste diesbezüglche Klage stammt aus dem späten Mittelalter von
Papst Johannes XXII., der in seiner Bulla Docta Sanctorum aus dem Jahre 1325 gegen
die Schüler der Ars nova in Paris und anderswo hohe Kirchenstrafen androht, wenn sie
ihre neue Musik in der Kirche aufführen würden (gemeint waren Philippe de Vitry und
Guillaume de Machaut, bezeichnenderweise beide von hohem geistlichem Stande). Ge-
gen die Mehrstimmigkeit in ihrer Hochblüte am Ende der Renaissance wandte sich be-
kanntlich auch das Tridentinische Konzil und wollte sie entschieden aus der Kirche ver-
14 Thibaut (wie Anm. 4), S. 15.
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schungen auf dem Gebiete des Gregorianischen Chorals weiter und die Editio Vaticana
wurde nach dem zweiten Vatikanischen Konzil in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhun-
derts durch eine jetzt gültige noch ursprünglichere Version der Choräle (z.T. mit Varian-
tenabdruck mit roten Neumen) ersetzt. Thibaut hätte seine Freude an dieser von ihm mit-
initiziierten Entwicklung gehabt.
Thibaut wäre nicht der begeisterte und begeisternde Leiter seines Singkreises mehr-
stimmiger alter Musik, wenn er in seinem Kapitel über den Choral nicht doch von mehr-
stimmiger Ausführung des geliebten Lutherchorals durch die Gemeinde selbst träumen
würde. Die bestehenden mehrstimmigen Choräle, vor allem die Bachischen, sind zu kom-
pliziert. Man müßte die Choräle neu einrichten, und zwar als einen vierstimmigen Gesang
der Gemeinden... als höchst einfache Gesänge, so viel als möglich in reinen Dreyklängen.
Und nun kommt er zu einer hoffentlich bald wieder aktuellen Formulierung: Ist nämlich
ein Volk sinnig und fromm; hält es den Sonntag heilig; sind ihm gute musikalische Anla-
gen gegeben; nehmen sich von allen Seiten würdige Geistliche der Verbesserung des Kir-
chengesanges an; stehen ihnen tüchtige Tonkünstler mit Rath und That zur Seite; und wen-
det man auf den musikalischen Unterricht in den Volksschulen vorzüglichen Fleiß, -
welches alles jetzt im Königreich Württemberg auf eine höchst erfreuliche Weise der Fall
ist <sic!>: so kann ein guter vierstimmiger Gesang der Gemeinden als sehr möglich gedacht
werden, und die Erreichung dieses Zieles wäre für musikalische Harmonie, und Benutzung
der individuellen Kräfte aller Gemeindeglieder, von großer Bedeutung^.
4. Die alten Meister der Mehrstimmigkeit, insbesondere der
Kirchenmusik. Palestrina als deren Gipfel (a-capella-Stif)
Es stellt sich natürlich die Frage, ob in der Kirche schicklicherweise noch andere Musik
zum Erklingen gebracht werden darf als im katholischen Raum der einstimmige Grego-
rianische Choral bzw. im evangelischen Raum das einstimmige lutherische Kirchenlied.
Thibaut denkt hier eigentlich sehr streng und kategorisch, also keine Mehrstimmigkeit
in der Kirche, hat nun aber doch seine ergreifende Erfahrung mit den mehrstimmigen
Werken der alten Meister im Sinn, die er in seinem Singkreis als so makellos, hochqua-
lifiziert und seelenbewegend erlebt hat bzw. immer wieder erlebt. Hier leuchtet der in
der Geschichte der Kirchenmusik bekanntlich alte Streit auf, ob die Kirche in ihren
Mauern eine Musik zulassen darf, die von solchem Charakter und von solcher Qualität
ist, daß sie die Herzen der Zuhörer womöglich allzusehr erfüllt und den Andächtigen
stören könnte. Die erste diesbezüglche Klage stammt aus dem späten Mittelalter von
Papst Johannes XXII., der in seiner Bulla Docta Sanctorum aus dem Jahre 1325 gegen
die Schüler der Ars nova in Paris und anderswo hohe Kirchenstrafen androht, wenn sie
ihre neue Musik in der Kirche aufführen würden (gemeint waren Philippe de Vitry und
Guillaume de Machaut, bezeichnenderweise beide von hohem geistlichem Stande). Ge-
gen die Mehrstimmigkeit in ihrer Hochblüte am Ende der Renaissance wandte sich be-
kanntlich auch das Tridentinische Konzil und wollte sie entschieden aus der Kirche ver-
14 Thibaut (wie Anm. 4), S. 15.