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Panofsky, Erwin; Saxl, Fritz
Dürers "Melencolia I": eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung — Teubner, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.31125#0093
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TJiirci

psychologischen Gegensätze dennoch zu einer künstlerischen
Einheit zusaramenzuschließen. Er hat nicht eine bestimmte Erschei-
nungsform der Melancholie dargestellt, sondern ihr Wesen — ihr
Wesen, dessen letzte Bestimmung' in eben der „Polarität“ beschlossen
liegt, die auch für den Saturn eharakteristisch ist.

Darüber hinaus aber läßt sich nun feststellen, daß gerade die hohe
Begabung für mathematisches Denken in einen besonders innigen
Bezug zur melancholischen Verdüsterung gebracht wurde. Luther hat
einmal halb scherzhaft gesagt: „Die Artzney macht Krancke, die Ma-
thematic trawrige,unddieTheologySündhaffteLeut“x),undPico della
Mirandola hat einen sehr ernsthaften Ausspruch des großen Scholasti-
kers Heinrich von Gent hervorgezogen1 2), in dem der Zusammen-
hang zwischen Melancholie und mathematischer Genialität ausführlich
und höcht tiefsinnig erörtert wird: es gibt zwei Arten von Menschen,
heißt es da; das eine sind die rein metaphysisch gerichteten Geister,
deren Denken von allen anschaulichen Bedingungen befreit ist, und
die daher auch solche Ideen, wie die eines extramundanen „Nichts“
oder einer intramundanen „Existenz ohne Körper“ (z. B. eines Engels)
unmittelbar erfassen können. Das andere aber sind diejenigen, die
eine Vorstellung nur denken können, wenn die Einbildungskraft dieses
Denken begleitet, d. h. wenn sie das Vorgestellte räumlich anzu-
schauen vermögen: „Ihr Intellekt kann nicht hinaus über die Grenze
ihrer Anschauung, ... sondern was immer sie denken, ist etwas Räum-
liches (Quantum), oder besitzt doch einen Ort im Raume wie der Punkt.
Daher sind solcheLeute melancholisch undwerden die besten
Mathematiker, aber die schlechtesten Metaphysiker, denn
sie vermögen es nicht, ihren Geist empor zu spannen über
die räumliche Vorstellung, auf der die Mathematik beruht.3)

1) Zitat u. a. bei Ahrens, a. a. O. p. 301.

2) Apologia, de descensu Christi ad inferos disputatio. Opera I, p. 133.

3) Henricus de Gandavo, Quodlibeta, Paris 1518, Fol. XXXIVT r (Quodl.
II, Quaest. 9): ,,Qui ergo non possunt angelum inteliigere secundum rationem
substantiae suae, . . . sunt illi, de quibus dicit Commentator super secundum meta-
physicae: in quibus virtus imaginativa dominatur super virtutem cognitivam. Et
ideo, ut dicit, videmus istos non credere demonstrationibus, nisi imaginatio con-
comitet eas. Non enim possunt credere plenum non esse aut vacuum aut tempus
extra mundum. Neque possunt credere hic esse entia non corporea, neque in loco
neque in tempore. Primum non possunt credere, quod imaginatio eorum non
stat in quantitate finita; et ideo mathematicae imaginationes et quod est extra
coelum, videntur eis infinita. — Secundum non possunt credere, quia intellec-
tus eorurn non potest transcendere imaginationem . . . et non stat nisi super mag-
nitudinem aut habens situm et positionem in magnitudine. Propter quod, sicut
non possunt credere nec concipere extra naturam universi, hoc est extra mundum,
nihil esse — neque locum neque tempus neque plenum neque vacuum — ....
 
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