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Panofsky, Erwin; Saxl, Fritz
Dürers "Melencolia I": eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung — Teubner, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.31125#0096
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Heinrich von Gent 75

führen kann — bis zu dem Absoluten, darunter er, der Künstler der
Renaissance, vor allem die absolute Schönheit verstand: berauscht
von der Aussicht in das „neue Königreich“ der Kunsttheorie, die
ihm die Mitteilungen Jacopo de Barbaris eröffneten, glaubte der
Dreißigjährige, die eine, große Schönheit mit Zirkel und Richtscheit
bestimmen zu können — allein der Vierzigjährige hat sich der Ein-
sicht nicht zu verschließen vermocht, daß diese Hoffnung* ihn getrogen
hatte.1) Und nun sind es gerade die dem Kupferstich „Melencolia I<£
unmittelbar vorangehenden Jahre gewesen, in denen diese neue Ein-
sicht zu völliger Klarheit gereift ist und ihre erste begriffliche For-
mulierung gefunden hat: um 1512 hat Dürer den berühmten Satz ge-
schrieben: „Was aber die Schonheit sei, das weiß ich nit“2), und in
dem gleichen Entwurfe heißt es: „Dann es lebt auch kein Menscff auf
Erd, der sagen noch anzeigen kann, wie die schönest Gestalt des Men-
schen möcht sein. Niemands weiß das, dann Gott, die Schon zu ur-
theilen.“3) Vor einer solchen Erkenntnis mußte auch der Glaube an
die Macht der Mathematik sich beugen: „Und soviel die Geome-
tria antrifft,“ schreibt Dürer etwa zehn Jahre später, „mag man
etlich Ding beweisen, daß sie wahr sind, — etlich Ding muß
man aber beider Meinung und Urtheil der Menschen bleiben
lassen“4); und seine Skepsis hat jetzt einen solchen Grad erreicht,
daß nicht einmal mehr die Annäherung an die höchste Schönheit
ihm möglich erscheint: „Dann ich glaub, daß kein Mensch leb’, der das
Schönste in einer kleinen Creatur müg bedenken, do es sein End möcht
haben, ich geschweig dann in eim Menschen. . . . Es steigt nit ins
Menschen Gmüt, Aber Gott weiß Sölchs, und wem ers offenbarn
wollt, der weßt es auch.... Aber ich weiß nit anzuzeigen ein sunder

1) Über diese Wandlung in Dürers Kunstanschauung vgl. vor allem Lud-
wig Justi, Konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken Albr. Dürers, 1902,
p. 21 ff.; derselbe in Repertorium XXVIII, 1905, p. 368 ff. Ferner E. Panofsky,
Dürers Kunsttheorie 1915, p. 113, namentlich aber p. I27ff.

2) Lange-Fuhse, p. 288,27. Diirers Nichtwissen bezieht sich natürlich
nicht auf das, was die Schönheit (ihrem Begriffe nach) sei, sondern
auf das, was die Schönheit (ihren anschaulichen, insonderheit proportio-
nalen Bestimmungen nach) sei (so auch Wölfflin, a. a. O., p. 349). Das geht
schon aus der Fortsetzung hervor: ,,Idoch will ich hie die Schonheit also für mich
nehmen: was zu den menschlichen Zeiten van dem meinsten Theil schön geachtt
werd, des soll wir uns fleissen zu machen.“ Der Satz: ,,was aber die Schön-
heit sei, das weiß ich nit“ kommt also seinem Inhalt nach den weiter unten zitierten
Formulierungen Lange-Fuhse 222,7 bzw. 359,16 gleich.

3) Lange-Fuhse, p. 290,21. Fast wörtlich identisch in einem 1512 datier-
ten Entwurf (Lange-Fuhse, p. 300,9.)

4) Lange-Fuhse, p. 363, 5.
 
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