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Panofsky, Erwin; Saxl, Fritz
Dürers "Melencolia I": eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung — Teubner, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.31125#0095
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Dürer

die metaphysisch-religiöse Spekulation eine Befriedigung- gewährt, wie
sie die rational-mathematische niemals gewähren kann1), — und inso-
fern ist sie auch ein geistiges Selbstporträt Dürers, der die drei
andern Komplexionen vielleicht nur um deswillen nicht dargestellt
hat, weil-er sich nicht mit ihnen identifizieren konnte; denn wie Dürer
ein mathematischer Künstler war, so ist er auch — wir wissen es
durch Melanchthons Wort über die „melancholia generosissima Dureri“
— ein melancholischer gewesen.2) Auch ihm ist die divinatorische
Begeisterung des melancholischen Genies nicht fremd gewesen, die
nur aus „öberen Eingießungen“ verstanden werden kann3), und die
den zur Kunst „g*enaturten“ Menschen dazu befähigt, „alle Tag viel
neuer Gestalt der Menschen und andrer Creaturen auszugießen und
zu machen, das man vor nit gesehen noch ein Ander gedacht hätt“4) —
auch er hat unter den „gewaltigen Depressionen“ gelitten, die das
Melancholieproblem des Aristoteles beschreibt. Und g'erade an der
Mathematik — der er die Arbeit eines halben Lebens gewidmet
hat — hat er die bittere Erfahrung machen müssen, daß selbst sie
(oder vielmehr gerade sie) das Denken niemals bis zum Absoluten

1) Daß man bei diesem Gegensatz — der ja gerade bei Pico sehr klar und
mit deutlichster Zuspitzung auf die Theologie zum Ausdruck kommt —
nicht etwa an ein ,,Pendant“-Verhältnis im äußerlichen Sinne zu denken hat, zeigte
Weixlgärtner (Mitt. d. Ges. f. vervielfält. Kunst, 1901, p. 47 ff.). Noch weniger
darf man mit Wustmann (Zeitschr. f. bild. Iv.N.F.XXII, 1911, p. 116) annehmen,
daß der von der Decke herabhangende Flaschenkürbis auf dem Hieronymus-Stich
ursprünglich zur Aufnahme der Inschrift: ,,Melencolia II“ bestimmt gewesen sei.

2) Vgl. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung, 1. c. Ganz unabhängig von
der tatsächlichen Feststellung hat übrigens schon M. J. Friedländer bei Gelegenheit
einer vorsichtigen und schönen Charakteristik des Kupferstichs Melencolia I die
Frage aufgeworfen, ob Dürer nicht am Ende selber Melancholiker gewesen sei.
(Albrecht Diirer — Deutsche Meister, 1921, p. i4Öff.).

3) Lange-Fuhse, p. 297, 18 (von 1512; ferner ganz ähnlich Lange-Fuhse,
p. 310,9 und 313, 17 von 1513): ,,Zu der Kunst, recht zu malen, ist schwer zu
kummen. Dorum wer sich darzu nit geschickt findt, der untersteh’ sich der nicht.
Dann es will kummen van den öberen Eingießungen.“

4) Lange-Fuhse, p. 218,16 (aus der 1528 gedruckten Proportionslehre);
ganz ähnlich Lange-Fuhse, p. 356, 14 (Entwurf um 1523); die Vorstufe dieser
Formulierung bildet der bekannte Satz von 1512 (Lange-Fuhse, p. 298,1, ganz
ähnlich, noch etwas früher, Lange-Fuhse, p. 295,13): ,,Dann ein guter Maler ist
inwendig voller Figur, und obs müglich wär, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus
den inneren Ideen, dovan Plato schreibt, allweg etwas Neues durch die Werk
auszugießen.“ Ist es ein Zufall, wenn sowohl der Satz von den „öberen Ein-
gießungen“ (dies schon von Giehlow, a. a. O. p. 68 angemerkt) als auch der Satz
von der „Originalität“ des stets Neues und noch nicht Dagewesenes erdenkenden
Genies an ein und dieselbe Stelle aus Ficinos Charakteristik des saturninischen
Melancholikers anklingen: „Unde divinis influxibus oraculisque ex alto repletus
nova quaedatn inusitataque seniper excogitat?“ (D. v. tr. I, 6, zitiert oben p. 36,
Anm. 3.) Vgl. hierüber auch Giehlow, a. a. O. 1904, p. 68.
 
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