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Vorwort

Betrachter als „ungesucht" und sozusagen zur Sache gehörig, weil sie
auch ihm (aber wie lange noch?) bis zu einem gewissen Grade vertraut
sind; die Mythologeme des klassischen Altertums sind ihm bereits in viel
geringerem Maße geläufig, und die Vorstellungen der Spätantike, des
Mittelalters und der Renaissance nur in den seltensten Fällen. Dadurch
entsteht innerhalb der Inhalte der „sekundären" Gegenstandsschicht
naturgemäß eine Graduierung der Verständlichkeit; aber es wäre
ein Irrtum, diese subjektive Graduierung der Verständlichkeit zum ob-
jektiven Maßstab der Bedeutsamkeit zu erheben. Was wir als Unter-
schied zwischen „wesentlichen“ und „unwesentlichen" In-
halten empfinden, ist meistens nur der Unterschied zwi-
schen solchen Darstellungsmotiven, die uns zufälligerweise
noch „allgemeinverständlich“ erscheinen, und solchen, die —
dem Gegenwartsbewußtsein ferngerückt — erst mit Hilfe von „Tex-
ten" erfaßbar sind, — zwischen noch fließenden und von der Zeit ver-
schütteten Quellen. Wir haben keineswegs das Recht, an diesen (nur für
uns!) verschütteten Quellen vorüberzugehen, sondern die Pflicht, sie nach
Möglichkeit wieder freizulegen. Sie werden sich, wenn uns das Glück die
richtigen Texte in die Hand spielt, als ebenso reich und oft als ebenso klar
erweisen, wie diejenigen, die noch ohne Aufgrabung strömen (womit na-
türlich nicht geleugnet ist, daß manche Bohrversuche auch zu tief, und
manche völlig daneben gehen). Und man kann an sich selber und anderen
immer wieder die Erfahrung machen, daß eine gelungene Inhaltsexegese
nicht nur dem „historischen Verständnis" des Kunstwerks zugute kommt,
sondern auch dessen „ästhetisches Erlebnis“, ich will nicht sagen: intensi-
viert, wohl aber in eigentümlicher Weise zugleich bereichert und klärt.
Fast immer aber wird sich heraussteilen, daß gerade diejenigen Deutun-
gen, die man nach bestem Gewissen als „sicher“ bezeichnen kann, für
das an eine „voraussetzungslose" oder „intuitive“ Betrachtung des
Kunstwerks gewöhnte Gemüt etwas besonders Befremdliches haben
und jedenfalls von der Art sind, daß man nicht ohne weiteres auf sie ver-
fallen wäre: die gebildeten Menschen früherer Zeiten (und auch die großen
Künstler gehörten manchmal dazu) haben eben nicht nur anders gedacht,
sondern auch anderes gewußt und gelesen als die der Gegenwart, und man
darf beinahe behaupten, daß die Deutung eines schwer erklärbaren, weil
„allegoriebelasteten" Kunstwerks gerade dann am wenigsten Aussicht
auf Richtigkeit hat, wenn sie dem „unverbildeten Menschenverstand"
besonders „natürlich", „zwanglos" und „psychologisch verständlich" er-
scheint.
 
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