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Die Leistung Annibale Carraccis: ,,Rekonstruktion einer ideellen Antike“ 127

die Cranachbilder als völlig isolierte Spätlinge der Brant-Gruppe, die bei-
den anderen Beispiele als Derivate des Parisurteils — einen weiter-
wirkenden Einfluß auf die Gestaltung der Herculesentscheidung nicht
ausüben konnten. Und doch hatte die eine von ihnen, diejenige Giu-
lio Romanos, vielleicht schon auf ein antikes Kunstwerk zurückge-
griffen, das wie kein anderes geeignet war, nicht nur in Einzelheiten be-
nutzt zu werden, sondern die Komposition als Ganzes von Grund aus um-
zugestalten: auf das Hesperidenrelief der Villa Albani (Abb. 66).
Dieses im 16. Jahrhundert auf dem Monte Giordano und später in den
Medici-Gärten bewunderte Kunstwerk — der kühle, aber klare Abglanz
einer wunderbar schönen Erfindung aus der Zeit der Parthenongiebel —
war in den Tagen derCarracci freilich nur ein Torso: die linke Hesperide
fehlte bis auf einen kleinen Rest, und erst vor kurzem hat uns das Frag-
ment einer anderen Replik eine Art von Totalanschauung vermittelt.1)
Allein der Rest der linken Hesperide konnte immerhin genügen, um auf
die Komposition des Ganzen wenigstens hinzudeuten, und völlig erhalten
war das ganz entsprechend komponierte, auch in den Abmessungen über-
einstimmende Schwesterwerk des Hesperidenreliefs, das Theseus-Peiri-
thoos-Relief des Museo Torlonia: beide zusammen gaben eine lückenlose
Anschauung von dem, was die phidiasische Antike unter einer „Drei-
figuren-Komposition“ verstand. Ein Sitzender zwischen zwei Stehenden
— und diese Gruppe so gefügt, daß die Gestalt zur Rechten in reiner
Profilwendung (daher für den Eindruck als die grazilere wirkend), die zur
Linken dagegen in halber Enface - Drehung der Mitte zugekehrt ist,
jene der Mittelfigur psychisch um einen Grad näher und räumlich um
einen Grad ferner als diese, die fast bis zur Berührung an sie herangerückt
ist, so daß die strenge Symmetrie zu zarter „Eurhythmie“ gelockert wird
und die Konstellation der Köpfe noch eben von dem Schematismus des
gleichschenkligen Dreiecks sich fernhält: das ist es, was jene beiden an-
tiken Kompositionen gemeinsam haben, und was, so selbstverständlich
es aussieht, doch nur ein einziges Mal, nur in der Zeit des späten Phidias,
entdeckt werden konnte.

Diesen so einfachen und doch so unvergeßlich-einprägsamen Rhyth-
mus, den die Antike erst da gefunden hat, wo das Bedürfnis und die
Fähigkeit erwacht war, einen Augenblick intensivsten Erlebens in dem
geringsten Maß äußerer Bewegung zum Ausdruck zu bringen2), — diesen

1) Vgl. W. Amelung, Herakles bei den Hesperiden, 80. Berliner Winckelmanns-
programm 1923, mit Abb. des neuentdeckten Leningrader Fragments, der mit dessen Hilfe
zustandegekommenen Rekonstruktion und einer Pighiuszeichnung, die das römische Exem-
plar in unrestauriertem Zustand wiedergibt.

2) Amelung a. a. O., S. 7. Der Gruppe der (auch in den Maßen mit einander über-
einstimmenden) „Dreifigurenreliefs" gehört bekanntlich noch das berühmte Neapler Or-
 
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