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Hercules Prodicius

an die „Palma virtutum“, auf deren 7 Ästen je ein Vogel sitzt; und
an die sonderbare Vorstellung, daß Christus von den 7 Tugenden ge-
kreuzigt wird1): kurz, er erinnert sich an unendlich viele mittelalter-
liche Darstellungen der „Virtutes", aber an keine mittel-
alterliche Darstellung der ,, Virtus" 2); und er wird lange suchen
müssen, bis er einer solchen anderswo begegnet, als in dem genau
umzirkten Bereich jener esoterischen Aristoteles-Illustration,
die der Natur der Sache nach erst im letzten Viertel des 14. Jahr-
hunderts entstehen konnte, und die für die Entwicklung einer all-
gemeingiltigeren Bildüberliefeung von vornherein nicht in Be-
tracht kam.

Der Grund für diese auf den ersten Blick recht überraschende Er-
scheinung läßt sich bereits aus den soeben erwähnten Darstellungen der
Einzel-Virtutes erraten. Wenn die „Tugendleiter" der Herrad in einer
Wolke endet, aus der die Gotteshand eine Krone herabreicht, — wenn die
genealogischen Stammbäume die 7 Tugenden unter Vermittlung der
„Humilitas" auf Gott-Vater zurückführen (während die 7 Todsünden
unter Vermittlung der „Superbia" aus einer Teufelsfratze hervorgehen),—
wenn in den Kampf der Tugenden und Laster die Engel eingreifen, um
die gute Partei zum Siege zu führen, — und wenn inmitten der Tugend-
bäume, die im „Jardin des Vertus“ von den „7 Bitten des Vaterunsers“
aus den „7 Quellen des heiligen Geistes" getränkt werden, ein achter,
größerer und keiner Pflege bedürftiger Baum emporwächst, von dem
es heißt „l’arbre du milieu senefie Ihesu Crist"3): so weist das alles
zurück auf jene Äußerung des Augustinus, die dem Bau der mittel-
alterlichen Tugendlehre als riesenhafte Türsturzinschrift eingemeißelt
werden könnte: „Virtutem quoque Deam fecerunt <paganij>, quae quidem,
si Dea esset, multis fuerit praeferenda. Et nunc quia Dea non est, sed do-
num Dei est, ipsa ab illo impetratur, a quo solo dari potest“.4) „Die Heiden

1) Vgl. zu den meisten dieser Vorstellungen Molsdorf Nr. 1040, 1052 —1089, sowie
vor allem F. Saxl, „Aller Tugenden und Laster Abbildung“, Festschrift für Julius Schlosser,
1926, S. 104ff. und die dort angegebene Literatur.

2) Daß noch ein um 1460 tätiger Künstler bei seinem Bemühen um eine Tugend-
allegorie „in una sola figura“ zunächst beständig auf die 7 „Virtutes“ verwiesen wurde,
versichert uns ausdrücklich Filarete in seiner Beschreibung des Tugend- und Laster-
hauses, die wir im III. Exkurse (S. 187 ff.) zur Wiedergabe bringen.

3) In einer „Somme le Roi“ vom Jahre 1295 (H. Martin, La Miniature franfaise
du 13. au 15. Siede, 1923, pl. XVII, fig. 21).

4) Civitas Dei IV, 20. Sehr aufschlußreich die völlig parallele Umdeutung, die Augu-
stinus mit dem Gleichnis von den „Wegen“ vorgenommen hat. Neben dem Gleichnis der
zwei Wege begegnet schon im alten Testament ein Gleichnis von drei Wegen, von denen
der mittlere zum Guten führt (Num. XX, 7). Diesen Gedanken, der sich naturgemäß sehr
leicht mit der aristotelischen Mittelmaßethik verbinden konnte (vgl. Alpers, S. 75), hat sich
auch Augustinus zu eigen gemacht. Aber für ihn bezeichnet der mittlere Weg nicht mehr.
 
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