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Sonstige Tugenddarstellungen des Mittelalters: ,,Virtutes“, aber keine ,,Virtus“ 153

haben auch die Tugend zu einer Göttin gemacht, die, wenn sie wirklich
eine Göttin wäre, den Vorzug vor vielen verdiente. Aber da sie nun eben
keine Göttin ist, sondern ein Geschenk Gottes, wird sie selbst nur durch
Gebet von jenem erlangt, der sie allein zu gewähren vermag.“

Wo diese Auffassung vom Wesen der „Tugend als Ganzer“ sich mit
der Vorstellung der 7 Einzeltugenden zusammengefunden hatte, da war
der „Virtus“ gleichsam ihre Personalität entzogen — nicht sowohl
in dem Sinne, daß sie nicht mehr als Gottheit geglaubt werden konnte
(das gilt ja für andere Vorstellungen der antiken Mythologie in noch weit
höherem Grade), als vielmehr in dem Sinne, daß sie — von den erwähnten
Ausnahmen abgesehen — vollständig aus der Welt des Anschaulich-
Lebendigen und Darstellbaren verschwinden mußte. Die Einzeltugenden,
gleichviel ob sie als „erworbene“ oder als „eingegossene“ aufgefaßt
wurden* 1), waren mögliche Eigenschaften des diesseitigen Men-
schen und blieben als solche durch diesseitige Symbole, insonderheit
durch irdische Frauengestalten, ausdrückbar. Ein diesen Einzeltugenden
übergeordnetes Prinzip aber, wie es das heidnische Altertum in
seiner ’Apsarr) oder „Dea Virtus“ besessen hatte, konnte vom mittel-
alterlichen Denken nicht mehr in einer anthropomorphen, sondern nur
mehr in einer metaphysischen Sphäre gesucht werden — nicht mehr
als eine Vollendung im Diesseits, die, ganz im Gegensatz zur christ-
lichen Humilitas, auch Selbstbehauptung, Heldenhaftigkeit und Ruhm
in sich einschloß und deren höchster Ausdruck der Begriff des „Heros“
ist, — sondern als ein Gnadengeschenk aus dem Jenseits, des-
sen auf Erden nie ganz erreichter Erfolg sich als „Heiligkeit“ dar-
stellt.2) Für eine solche Vorstellung war eine Personifikation wie die der
antiken „Dea Virtus“ kein zureichender Ausdruck mehr. Das Mittelalter

wie für Hieronymus, die „frugalitas“ zwischen „parcitas“ und „luxuria“ oder, wie für
Philo, die acofppocnivy) zwischen podlupia und cpsiScoAia sondern Christus: „Die rechte
Mitte einzuhalten zwischen dem linken Weg der Verzweiflung und dem rechten der An-
maßung würde für uns sehr schwer sein, wenn nicht Christus sagte: ,Ich bin der Weg . .
Der Weg ist Christus in seiner Niedrigkeit; als Wahrheit und Leben ist er erhaben und
Gott“ (Sermo 142, 2, 1, 2, zit. nach H. Rinn, Dogmengesch. Lesebuch, 1910, S. 198).

1) Bekanntlich unterscheidet die Moraltheologie zwischen den „virtutes acquisitae“,
die auch die Heiden erwerben können (es sind die vier philosophischen Tugenden) und den
„virtutes infusae“ Glaube, Liebe, Hoffnung. Dabei war es aber wenn auch nicht Dogma,
so doch „gebilligte Meinung“, daß auch die ersteren nicht ohne Mitwirkung der Gnade
verliehen würden.

2) In sehr bezeichnender Weise kommt diese Absage auch an die griechische Phi-
losophen-Tugend in den „Enarrationes in Numeros“ des Rabanus Maurus zum Aus-
druck (Patrol. lat., Bd. 108, col. 590): „Si quis ergo procedit in virtute, ipse numeratur;
et non in qualicumque virtute, id est non in Aegyptiorum virtute, neque in Assyriorum
neque in Graecorum, sed in virtute Israel... Est enim virtus animi, quamGrae-
corum philosophi docent. Sed haec non pertinet ad numerum Dei.
Non enim pro Deo, sed pro gloria exercetur humana, ..."
 
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