dort sich hervorwagen — hat hier Besitz von den am Kreuz
Hängenden ergriffen. Daß die anatomische Einzeldurchbildung
nicht immer geglückt ist, liegt an den Grenzen, die dem Meister
durch sein mangelndes Können gesteckt waren. Was er ge-
wollt hat, wird trotz aller Mängel ganz klar. Er hat aus der
schlanken Idealgestalt des Heilands einen knochigen, gedrungenen
Körper gemacht, hat «einen Bauern ans Kreuz geheftet», auch
wenn er ihn von den ungeschlachten Schächern noch unter-
schieden hat. «Wie die Hände, so sind die Füße groß und
derb, nicht die zierlichen Endigungen der Beine.» Der Kopf —
mag auch jetzt der Kampf ausgekämpft sein 1 — trägt noch
deutlich die Spuren der Todesqual. Und der herbe Realismus,
der schon hier im Christus sich vernehmlich ausspricht, steigert
sich in dem Kopfe des frommen Schächers zu noch eindring-
licherer Wucht, überschreitet im Antlitz des bösen fast die
Grenze des Erträglichen. Die Spuren von Laster und Ver-
brechen sind ihm so deutlich aufgeprägt wie die Qualen eines
gewaltsamen Todes2.
Diese Freude an der Bildung des Häßlichen und Abschrecken-
den, diese schweren, bäurischen Gestalten mit ihrer besonders
derben Bildung des Nackten, weisen über den jungen Wirk-
lichkeitssinn, wie er sich in den vier vorher betrachteten Re-
liefs zu regen beginnt, weit hinaus. Bei aller Aehnlichkeit
in der Komposition und einem unleugbaren Zusammenhang
möchte ich das Paderborner Werk daher von dem Jahrhundert-
1 H. Bergner, Handbuch der kirchl. Kunstaltertümer in Deutschland,
Leipzig 1905, S. 511 führt gerade diese Kreuzigung der Gaukirche zu
Paderborn als Beispiel dafür an, daß im Gesicht Christi «die erlösende
Macht des Todes durch eine ergreifende Ruhe mächtig auf den Beschauer
wirkt.»
2 Es wirkt angesichts dieses krassen Naturalismus paradox, wenn
Nordhoff a. a. 0. von dem «hochidealen Gepräge» des Paderborner Altar-
aufsatzes spricht, ein Ausdruck den Otte a. a. 0. II, S. 590 übernimmt.
Man muß sich eben vergegenwärtigen, daß bei Nordhoff «ideal» hier, wie
auch sonst gelegentlich, nichts anderes heißen soll als gotisch.
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Hängenden ergriffen. Daß die anatomische Einzeldurchbildung
nicht immer geglückt ist, liegt an den Grenzen, die dem Meister
durch sein mangelndes Können gesteckt waren. Was er ge-
wollt hat, wird trotz aller Mängel ganz klar. Er hat aus der
schlanken Idealgestalt des Heilands einen knochigen, gedrungenen
Körper gemacht, hat «einen Bauern ans Kreuz geheftet», auch
wenn er ihn von den ungeschlachten Schächern noch unter-
schieden hat. «Wie die Hände, so sind die Füße groß und
derb, nicht die zierlichen Endigungen der Beine.» Der Kopf —
mag auch jetzt der Kampf ausgekämpft sein 1 — trägt noch
deutlich die Spuren der Todesqual. Und der herbe Realismus,
der schon hier im Christus sich vernehmlich ausspricht, steigert
sich in dem Kopfe des frommen Schächers zu noch eindring-
licherer Wucht, überschreitet im Antlitz des bösen fast die
Grenze des Erträglichen. Die Spuren von Laster und Ver-
brechen sind ihm so deutlich aufgeprägt wie die Qualen eines
gewaltsamen Todes2.
Diese Freude an der Bildung des Häßlichen und Abschrecken-
den, diese schweren, bäurischen Gestalten mit ihrer besonders
derben Bildung des Nackten, weisen über den jungen Wirk-
lichkeitssinn, wie er sich in den vier vorher betrachteten Re-
liefs zu regen beginnt, weit hinaus. Bei aller Aehnlichkeit
in der Komposition und einem unleugbaren Zusammenhang
möchte ich das Paderborner Werk daher von dem Jahrhundert-
1 H. Bergner, Handbuch der kirchl. Kunstaltertümer in Deutschland,
Leipzig 1905, S. 511 führt gerade diese Kreuzigung der Gaukirche zu
Paderborn als Beispiel dafür an, daß im Gesicht Christi «die erlösende
Macht des Todes durch eine ergreifende Ruhe mächtig auf den Beschauer
wirkt.»
2 Es wirkt angesichts dieses krassen Naturalismus paradox, wenn
Nordhoff a. a. 0. von dem «hochidealen Gepräge» des Paderborner Altar-
aufsatzes spricht, ein Ausdruck den Otte a. a. 0. II, S. 590 übernimmt.
Man muß sich eben vergegenwärtigen, daß bei Nordhoff «ideal» hier, wie
auch sonst gelegentlich, nichts anderes heißen soll als gotisch.
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