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Verein Historisches Museum der Pfalz [Hrsg.]; Historischer Verein der Pfalz [Hrsg.]
Pfälzisches Museum: Monatsschrift d. Historischen Vereins der Pfalz und des Vereins Historisches Museum der Pfalz — 2.1885

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Nr. 6 (15. Juni 1885)
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https://doi.org/10.11588/diglit.29787#0042
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42

Aus einem großen Hause fast am Ende der Hauptstraße
trat ein kleines Männlein. Es eilte geschwind die hohe Treppe
herunter und trippelte in kleinen Schrittchen auf der Straße
dahin. Ein „Spenser", d. h. ein kurzer, frackartiger Rock, desseu
Jahre, nach seiner Fadenscheinigkeit zu schließen, wohl mit denen
des Jahrhunderts zählten, umgab eineu kurzen, gedrungenen
Oberkörper. Ein Paar dunkelgraue derbe Beinkleider reichten
bis etwas über die Kniee, wo sie durch grobe schwarze Strümpfe
abgelöst wurden, welche ihrerseits in Schnallenschuhen staken.
Doch die Schnallen hatten ihre ursprüngliche gelbe Farbe ver-
loren und zeigten statt dieser eine stark ins Schwarze schillernde
Mißfarbe. Auf dem Haupte trug er eineu dreieckigen Hut, der
ebenfalls nicht mehr in den Jünglingsjahren Zu stehen schien.
Das Wichtigste aber war allem Anscheine nach ein dicker Rohr-
stock, welchen der schnell dahin Eilende bald wagerecht in der
Rechten trug und vorwärts und rückwärts bewegte, gleichsam
um dem beim Gehen etwas balancierenden Körper das Gleichge-
wicht zu erhalten, bald auch an das Kinn hielt, wie wenn er
mit tiefen Gedanken beschäftigt wäre. Das glatt rasierte Gck
sicht war nichts weniger als schön: dazu war der Mund Zu
groß, die Backenknochen zu weit nach außen stehend, die Nase
zu stumpf. Das Interessanteste waren seine Augen, welche, ob-
wohl sie etwas zu klein waren, doch durch das seltsame Feuer,
das aus ihnen leuchtete, und durch ihre große Beweglichkeit zu
allererst die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich zogen. Wie
diese Aeuglein auf Klugheit und Verstand deuteten, so ließ der
festgeschlossene Mund und die breite Stirne, welche zwischen den
Augenbrauen zwei tiefe Falten Zeigte, von Charakterfestigkeit
und Willensstärke, wenn nicht von Starrsinn und Trotzköpfigkeit
zu zeugen.
Das Männlein mit dem geschilderten Aussehen — es war
der evangelisch-reformierte Schulmeister Karl Henrich Röhn —
fixierte alle ihn: Begegnenden — meistens Arbeiter und kleine
Gewerbsleute — mit seinen Aeuglein, als wollte er sie zum
Grüßen auffordern. Manche leisteten denn auch dieser stummen
Aufforderung Folge und ernteten für ihren Gruß einen sehr
höflichen Gegengruß, indem jener seinen Hut tief herunterzog.
Andere aber fixierten ihn beim Vorübergehen ebenso scharf, ohne
einen Versuch Zum Grüßen zu machen; es schien vielmehr ein
höhnisches Lächeln nm ihre Lippen zu spielen. Solchen aber
sandte er aus seinen Augen Blitze entgegen, welche, wenn er
tötliche Kraft in sie hätte legen können, jene wohl vernichtet
haben würden. Als er so eine Strecke gegangen war, kam ihm
ein stattlicher Mann entgegen, der fast die nämliche Tracht, nur
alles neuer und geschmackvoller, Zeigte. Nuffallenderweise schaute
jetzt der Kleine zur Seite; der ihm Begegnende aber schwang
seinen Hut in weiten: Bogen und rief, indem er ein zierliches
Kompliment machte: „Guten Tag, Herr Eollega!" Der also
Angerufene wurde bei diesem offenbar in höhnischem Tone ge-
sprochenen Gruße kirschrot, und seinen Lippen entfuhr so etwas
wie ein unterdrückter Fluch.
Bald darauf bog der Schulmeister rechts ab uud schlug
eine etwas aufsteigende Straße ein. Auf der Höhe angekommen,
wendete er sich nach einem rechts stehenden größeren Gebäude,
dem Schulgebäude, in welchem seine bescheidene Wohnung lag.
Als er derselben nahe kam, hörte er Kindergeschrei aus ihr
dringen. Er beeilte seine Schritte, wie wenn er geahnt hätte,
daß er dort Gelegenheit finden würde, seinen Zorn abzukühlen.
Sobald er in die Wohnung, nnd Zwar in das vordere größere
Zimmer eintrat, verstummte das Geschrei; doch er hatte immer-

hin noch die Möglichkeit zu sehen, was da geschehen war und
den Uebelthäter zu ertappen. Auf dem Fußboden saß ein etwa
dreijähriges Mädchen, vor ihm kniete ein fünfjähriger Junge,
der seinem Schwesterlein das einfache Spielzeug Zu entreißen
suchte. Letzteres aber verteidigte seinen kostbaren Besitz auf
das tapferste, so daß es dem Räuber nicht gelang, den ersehnten
Gegenstand in seine Gewalt zu bringen. Das Schwestcrlein
weinte aus Furcht, daß es über kurz oder lang doch werde be-
raubt werden, der gewaltthätige Bruder aus Zorn, daß sein
Ueberfall nicht sofort mit Erfolg gekrönt wurde. Dieses ge-
schwisterliche Duett hörte, wie gesagt, sofort auf, als beide den
gestrengen Herrn Papa ins Zimmer treten sahen. Dieser über-
sah aber sofort mit der Sicherheit eines Schulmonarchen, dem
in der Praxis derartige Fälle Zu unzühligenmalen vorkommen,
mit einem Blicke die ganze Sachlage. Er riß den kleinen Sünder
am rechten Arm in die Höhe und machte sich daran, ihn: durch
exemplarische Hiebe ein Bewußtsein von seinem Vergehen beizu-
bringen. Darob erhob der Junge abermals seine Stimme und
strengte sie an, soweit es seine fünfjährigen Lungen erlaubten,
und das kleine Schwesterchen, welches bei diesem Anblick das ihm
zugefügte Unrecht vollständig zu vergessen schien, sekundierte ihm
getreulich. Aus diese zweite, viel lautere Gesangsproduktion
des vorher feindlichen, jetzt in gleichem Bemühen geeinten Ge-
schwisterpaares kam eine blasse, magere Frau herbeigeeilt, offen-
bar, um die Vermittlerin zu spielen.
„Aber Henrich, was hast Du vor? Was ist denn passiert?"
rief sie mit laurer, aber immer noch bittender Stimme?
Doch der angerusene erzürnte Gemahl stellte sich, als ob
er dicken Ruf nicht höre, und fuhr in seinem Strafverfahren un-
entwegt fort. Erst als er hier die ihm notwendig scheinende
Gründlichkeit angewendet hatte, wendete er sich seiner blassen,
zitternden Frau mit rotem Gesicht zu. Die geängstigte Frau
wiederholte ihre Frage.
„Was passiert ist? Du fragst auch noch? Keine Zncht
und Ordnung kannst Du zu Hause halten! Wenn ich mich den
ganzen Vormittag mit fremden Rangen abgequält und abgeürgert
habe, dann mnß ich, zu Hause angekommen, mich auch noch über
die eigenen Bälge ärgern. Warum merkst Du nicht auf, warum
hinderst Du nicht solche Scenen, wie ich sie eben sehen mußte?"
„Aber lieber Henrich, Du weißt doch, daß ich eben in der
Küche zu thun habe, und nicht darauf Acht geben kann, was
hier geschieht".
„Ach, in der Küche zu thun!" sagte er höhnend. „Ja
freilich, da giebt's viel Arbeit, bis die Vers chiedenen Flcischsorten
all' die Braten, das Geflügel und die Fische in der richtigen
Weise zubereitet sind".
„Ach, sei doch nicht so gallig! Und wenn ich auch nur
eine einfache Hafermehlsuppe zu kochen habe, so macht das doch
immerhin Arbeit. Denn — wenn sie nicht gut gerät, dann be-
komme ich Schelte".
„Und das mit Recht!" rief der Schulmeister. „Als ob
man nicht zu gleicher Zeit solch ein simples Mittagessen bereiten
und auf die Kinder ein aufmerksames Auge haben könnte! Doch
wenn Du dieses alles nicht allein bewältigen kannst, wo ist denn
die Lisbeth, diese faule Duckmäuserin?"
„Geh', schäme Dich, daß Du das arme Ding so schmähst!
Du weißt nur Zu gut, daß Du ihr Unrecht thust, daß sie den
ganzen Tag fleißig ist und für uns arbeitet".
 
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