Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Pionier — Band 4.1911/​1912

DOI Heft:
10. Heft, Juli 1912
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.56250#0078
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
74

VON ALTEN SCHLESISCHEN DORFKIRCHEN


Inneres der evangelischen Pfarrkirche zu Mollwitz, Kreis Brieg
Text S. 73—75

Bildern angemutet haben, wie es heut vielleicht
Bahnhöfe und Luftschiffe tun würden. Dar-
gestellt sind im Chor in grossen, mehrere
Meter hohen Malereien der Stammbaum
Christi, der aus dem Haupt des auf einem
Thronsessel ruhenden Jesse wächst, die Geburt
Christi, Anbetung durch die Magier, Mater
Misericordiae, Kreuzigung Christi, Darstellung
Jesu im Tempel und Jesus als zwölfjähriger
Knabe im Tempel.
Das merkwürdigste Bild unter den genannten,
einzigartig nicht nur in Schlesien, sondern weit
über dessen Grenzen hinaus ist das Kreuzigungs-
bild (Abb. S. 75). Es ist eine Allegorie und
stellt Christus am Kreuze hängend vor,
während er von sieben weiblichen Figuren
(Brustbilder) umgeben ist, die alle mit seiner
Kreuzigung beschäftigt sind. Nicht römische
Kriegsknechte also, sondern Frauen, die in
bunter Tracht aus Wolken hervorwachsen,
Frauen in anmutiger Gewandung und zier-

licher Haltung üben die Marterstrafen. Spruch-
bänder geben in mittelalterlicher Sprache, zum
Teil altschlesischem Dialekt, die Erklärung
zu dem Tun der Frauen, welche Glaube,
Mitleid, Gerechtigkeit, Hoffnung, Liebe,
Demut, Geduld, die Kirche und das Judentum
(letztere durch däs später angebrachte Sakra-
mentshäuschen verdeckt) darstellen. Es ist
schon viel nach einer Erklärung dieser
Kreuzigungsdarstellung gefahndet worden,
leider vergeblich, da das Motiv weder ein
Vor- noch ein Nachbild zu haben scheint.
Die mittelalterliche Theologie erging sich ja
viel im Garten der Dogmatik, und wir könnten
manches Gleichnis anführen, aber befriedigende
Erklärung bietet keins. Unser Bild lässt vor-
läufig keine andere Deutung zu als: Christus
stirbt durch die Tugenden, welche die
seinigen waren, sie werden seine Mörder.
Nur eine tut ihm kein Leid, die Spes (Hoff-
nung), sie fängt sein Blut auf wie aus Mitleid.
 
Annotationen