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II. DIE BISHERIGEN AUFFASSUNGEN ZUR MUNSTERBAUGESCHICHTE

Bis zu den Untersuchungen der letzten Jahre war die For-
schung durch drei Hemmnisse belastet. Das erste ist die be-
kannte und oft beklagte5 Unzulänglichkeit der Reichenauer
Überlieferung, besonders der zur Baugeschichte. Das zweite
ist der Umstand, daß das Münster in fast allen seinen Teilen
dicken Verputz trägt, der das Mauerwerk nicht zu beurteilen
erlaubt. Das dritte ist die Armut an geformter Architektur in
allen Bauzuständen vor dem gotischen Chorbau. Da außer-
dem die beiden Wiederherstellungen um die Mitte und am
Schluß des vorigen Jahrhunderts bedauerlicherweise nicht zu
baugeschichtlichen Untersuchungen benutzt wurden, so war
der Beurteiler vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Angesichts
der völlig neuen Grundlage, welche die Bauuntersuchungen
geschaffen haben, lohnt es sich nicht, die älteren Auffassun-
gen, die oft genug einem Rätselraten gleichkamen, im Zu-
sammenhang darzustellen6. Es genügt, diejenigen Meinungen
herauszugreifen, die nach der heutigen Erkenntnis zur Klä-
rung der Baugeschichte etwas beizutragen wußten.
Den ersten Beitrag — aber ohne ihn auszuwerten — lieferte
Heinrich Hübsch in seinem Sammelwerk: Die altchristlichen
Kirchen7, in dem der Grundriß des Münsters die bauge-
schichtlich bedeutsame Knigkung in der Flucht der Mittel-
schiffswände deutlich zeigt8. Fast unglaublicherweise haben
spätere Bearbeiter, einschließlich O. Gruber8*, dies nicht be-
achtet und geben gerade Fluchten; erst J. Hecht (Taf. 24) hat
1928 in seinem sonst nicht sachgemäß aufgenommenen
Grundriß die Knickung wieder dargestellt, ebenso H. Christ20
Die auf Hübsch folgenden Beurteiler, darunter berühmte Ge-
lehrte, wie Fr. Adler, der erste wissenschaftliche Bearbeiter
der Münsterbaugeschichte9, J. Neuwirth10, F. X. Kraus, G.
Dehio11, vermochten keine gültigen Urteile abzugeben. Ihr
Ansehen hat aber auf lange Zeit andere davon abgeschreckt,
im heutigen Münsterbau karolingische Bestandteile zu sehen.
Erst S. Guyer12 hat 1907 wenigstens für den Ostbau und das
Langhaus zutreffende Behauptungen aufgestellt, allerdings
ohne ausreichende Begründung. Guyer weist das Ostquerhaus
5 U. a.: K. Brandi, Die Reichenauer Urkundenfälschungen, 1890,
S. 1 und 2. — Derselbe, Die Chronik des Gallus öhem, 1893, S. IX.
— J. R. Dieterich in: Die Kultur der Abtei Reichenau, hrsg. von K.
Beyerle (KAR), 1925, S. 783. — H. Baier in KAR S. 244.
8 Übersichten bei F. X. Kraus in den Bad. Kunstdenkmälern I,
1887, S. 337 ff., K. Gröber, Reichenauer Kunst, 2. Aufl. 1924, S. 24 ff.
und J. Hecht, Der romanische Kirchenbau des Bodenseegebiets,
1928, S. 78, 90, 103.
7 Dr. (Heinr.) Hübsch, Die altchristlichen Kirchen usw., Karlsruhe
1862, Taf. 49.
8 Die Vorlage zu Hübschs Tafel ist vermutlich ein Plan im Gene-
ral-Landesarchiv zu Karlsruhe (Baupläne Nr. 13). Er ist im Maß-
stab 1:125 gezeichnet und zeigt — offenbar eingemessen — die
Knickung richtig vom zweiten Ostpfeiler an. Der Stecher Hübschs
hat das Verhältnis etwas verwischt.
8 a KAR S. 832.
9 Friedr. Adler, Die Kloster- und Stiftskirchen auf der Insel Rei-
chenau, T870.
10 Jos. Neuwirth, Die Bautätigkeit der alemannischen Klöster St.
Gallen, Petershausen und Reichenau, 1884.
11 Auffällig ist noch in der letzten Ausgabe des Handbuchs der
Deutschen Kunstdenkmäler IV, 1926. S. 279—282 G. Dehios verzich-
tende Beurteilung, auch der übrigen Reichenauer Baudenkmäler.
12 Sam. Guyer, Die christlichen Denkmäler des ersten Jahrtau-
sends in der Schweiz, 1907, S. 85.

dem Abt Heito (816) zu. Der schmale Bogen zum Südflügel
des Ostquerhauses deutet ihm auf ein schmäleres Seitenschiff
im karolingischen Bau. Abt Witigowo habe im 10. Jahrhun-
dert die Seitenschiffsmauern hinausgerückt, das Ostquerhaus
aber nicht angetastet. Der nächste Schritt zur Aufklärung
wäre die Überlegung gewesen, daß der Knick in den Mittel-
schiffswänden irgendwie einen Bauabschnitt anzeigen müsse,
um so mehr als an der Knickstelle (zweiter Pfeiler von Osten)
die bekannte »Baufuge« vom Kirchenboden bis zum Dach
durchgeht. O. Gruber, der bis zuletzt den Knick übersehen
hat, benutzt die Baufuge zu dem schon am Bau als irrig er-
kennbaren Schluß, daß das heutige Mittelschiff östlich der
Baufuge noch karolingisch sei13. Nimmt man zu den Auffas-
sungen Guyers und Grubers die von dem ersteren übersehene,
von letzterem verkannte Tatsache hinzu, daß die Mittel-
schiffswände zwischen Baufuge und Ostquerhaus nach ihren
Architekturformen ins 12. Jahrhundert, also zu einem späte-
ren Umbau, gehören, so gelangt man zu dem Schluß, daß das
schmale und kurze karolingische Langhaus zwar beseitigt,
aber in den Fundamenten noch erhalten sein müsse. J. Hecht
hat diesen letzten Schritt getan und damit die erste wirklich
fruchtbare Meinung in der jetzt gerade ein Jahrhundert alten
Bauforschung zum Reichenauer Münster geäußert14. Sie ist
durch die Ausgrabungen voll bestätigt worden. Hechts Urteil
zum Heitomünster wäre noch wertvoller, wenn es nicht be-
lastet wäre mit der schon am Bau als irrig erkennbaren Mei-
nung, der Heitobau sei, weil im Grundriß des Langhauses
schmäler, auch im Aufbau niedriger gewesen als der heutige
Bau und erst von Witigowo erhöht worden15. Außerdem sind
Hechts lediglich auf den Vergleich mit zeitgenössischen Bau-
ten gegründete Vermutungen über den Ostabschluß der
karolingischen Basilika und über die Kryptenfrage16 durch die
Ausgrabungen unzweideutig widerlegt worden. So bestand
also auch nach dem Erscheinen von Hechts Arbeit noch eine
wesentliche Unsicherheit in der Beurteilung der karolingi-
schen Baunachrichten.
Was vollends den Teil des Münsters westlich der »Baufuge«
anlangt, so herrschte bis in die letzte Zeit ein bunter Streit
der Meinungen. Weil nämlich der bestehende Bau dort ober-
irdisch — mit Ausnahme der später zu behandelnden Säule
zwischen Westquerhaus und südlichem Seitenschiff — keiner-
lei Merkmale enthält, die irgendwie als karolingisch ange-
sprochen werden könnten, so kam es lediglich darauf an, für
die beiden zum Schluß des 10. (Abt Witigowo) und die Mitte
des 11. Jahrhunderts (AbtBerno) überlieferten Baunachrichten
die Entsprechungen am Bau zu finden. Weil aber weiter ohne
Untersuchung des Mauerwerks kaum ein Bauteil unzweifel-
haft dem 10. Jahrhundert zugewiesen werden konnte, so lief
der Streit schließlich auf die Frage hinaus, ob man den archi-
tektonisch einheitlich gestalteten Westbau — Querhaus mit
Turm und Vorhallen — Witigowo oder Berno zuweisen wollte.
13 Otto Gruber, Die Kirche des Benediktinerklosters Reichenau-
Mittelzell, in: Der Bodensee, 1921, Verlag „Der Schwäbische Bund"
Stuttgart, S. 37 ff. — Derselbe, KAR S. 840.
14 J. Hecht, a. a. O. S. 80, Tafel 55 a.
15 J. Hecht, a. a. O. S. 82, 96.
16 J. Hecht, a. a. O. S. 82, 83.

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