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längsten bei den Klosterkirchen, während die Bischofskirchen
und besonders die kaiserlichen Dome, die beide mehr Wert
auf Verbindung mit der Öffentlichkeit legten, den anderen,
schon aus früheren Jahrhunderten bekannten Lösungen des
Westabschlusses der Basilika mit einem oder zwei Türmen
und Vorhalle den Vorzug geben162. Daß die Westchöre und
Westquerhäuser mit Chor gerade an Klosterkirchen sich er-
hielten, liegt daran, daß die Klöster die Wallfahrt pflegten und
eben diese westlichen Volkskirchen als Wallfahrtskirchen be-
nutzten. Der hohe Wert der Erkenntnisse zum Witigowobau
und Bemobau in Reichenau liegt darin, daß damit ein Zwi-
schenfall aus dieser Entwicklung sichtbar geworden ist, bei
welchem in den Vorgängen des Abbruchs des karolingischen
Westquerhauses aus frühkluniazensischen Reformabsichten
und der unmittelbar darauffolgenden Wiedergutmachung die
ältere Richtung noch einmal über die jüngere gesiegt hat. Der
Neubau Bemos, in welchem die alten Teillösungen der Wall-
fahrtskirche in Querhausform, des Westwerks und der Turm-
kapelle zu einer neuen liturgischen und architektonischen Ein-
heit verschmolzen sind, ist so ein Gipfelpunkt in der Entwick-
lung des Querhauses seit Konstantins d. Gr. Zeit geworden.
Die Entwicklungsgeschichte des Querhauses ist aber, wenn
man sich erst einmal klar gemacht hat, daß die sonstigen ober-
irdischen Zutaten an die stereotype Form der altchristlichen
Basilika, die Kapellen und Chorumgänge im Osten, die Vor-
hallen und Vorkirchen im Westen und die Türme, das Wesen

der Basilika nicht geändert haben, auf weiteste Strecken auch
diejenige der Basilika überhaupt.
Die Betrachtung wird hiermit abgeschlossen nicht etwa nur,
weil die Reichenauer Baugeschichte keine weiteren Anhalts-
punkte liefert, sondern aus allgemeinen Gründen. Mit dem
ii. Jahrhundert ist die Schöpfungszeit der liturgisch bedingten
mit den Mitteln der antiken Baukunst gestalteten Kirchen-
formen vorüber. Der Kirchenbau der Folgezeit wendet sich
andersgearteten Aufgaben zu: der technischen der Wölbung,
den formalen des nicht immer durch innere Gründe bestimm-
ten reichen Aufbaues und der Ausbildung der architektoni-
schen Einzelformen. Die Grundrißtypen sind fest geworden,
ja sie kehren unter dem Einfluß der Reformbestrebungen zu
den einfachsten Grundformen zurück. Höchstens am Chorteil
der Basilika regt sich noch einiges liturgisch genährte Leben,
das aber, wie gezeigt, seine Wurzeln in der Frühzeit hat.
Die an der Hand der frühen Baugeschichte des Reichenauer
Münsters durchmessene Zeitspanne von wenig mehr als drei
Jahrhunderten ist eine der großen Zeiten des Kirchenbaues
überhaupt. Ihre Beispiele finden sich fast ausschließlich in den
Ländern diesseits der Alpen und zeugen von der geistigen und
künstlerischen Befähigung der sie schaffenden jungen Völker,
die das Erbe der Antike unbefangen zu neuen Schöpfungen
nutzten163. Das Zutagetreten dieser Schöpferkraft ist es, was
die Beschäftigung mit ihren Leistungen so anziehend macht
und fruchtbar auch für unsere Zeit.

E. EINZELFUNDE

Im Gegensatz zu dem Uberreichtum der Funde von Bauzu-
ständen war das Ergebnis an Einzelfunden enttäuschend ge-
ring. Die Fundlage im Innern der Kirche zeigte bei den einzel-
nen Grabungsabschnitten immer das gleiche Bild: Massen von
Bauschutt, der fast nur aus Mörtel und Putzresten bestand,
weil die Kieselsteine zur Wiederverwendung ausgelesen wa-
ren; in diesem Schutt waren außer Bruchstücken von Leisten-
ziegeln keine Kleinfunde, nicht einmal Scherben, geschweige
denn Münzen, Werkzeuge und dergleichen. In den Gruben am
Äußern fanden sich neben den Leistenziegeln auch Scherben,
jedoch durchweg aus späterer Zeit und offenbar meist von der
Auffüllung des Geländes nach Abbruch des alten Klosters her-
rührend. Eine für die Grabungstechnik beachtenswerte Beob-
und ihrer Gottesdienste,- das Kirchenschiff wurde für die letzteren
das eine Mal in dieser, das andere Mal in der entgegengesetzten
Richtung gebraucht. Die Oratorien im Obergeschoß der West-
bauten sind aber durch ihre oft bedeutende Höhenlage vom
Kirchenschiff praktisch abgeschieden. Es wäre unmöglich, von
ihnen ins Schiff „hinabzuzelebrieren", besonders wenn ihr Altar
vor der Westwand stand. Häufig haben sie auch liturgische Ost-
richtung, wie die Westwerke, sind aber von der Kirche durch
Bogenstellungen getrennt, oder ihr Altar steht gar vor einer ge-
schlossenen Wand gegen das Kirchenschiff in einer Nische wie bei
den frühen Vorkirchen der Kluniazenser (Tournus), wodurch die
Verbindung zwischen beiden überhaupt aufgehoben ist. Nach
diesen Feststellungen kann kein Zweifel mehr sein: Die Oratorien
in Obergeschossen der Westbauten sind selbständige Kulträume
und nicht aus den Westchören entstanden. Es wird sich aber auch
gezeigt haben, daß eine Klasseneinteilung dieser Bauten, wie sie
in Abschnitt IV C 4 e versucht wurde, notwendig ist, um über-
haupt eine Verhandlungsgrundlage zu schaffen.
162 Frühe französische Beispiele nach Jean Hubert: St. Etienne zu
Paris (Fig. 104) und St. Martin zu Autun (Fig. 18). Über das hohe
Alter der Fassaden mit Glockentürmen siehe Hubert S. 82 und 83.

achtung wurde in den äußeren Gruben gemacht. Auf den Est-
richen und Mauerzügen im Untergrund lag stets eine Schicht
loser Sandkörner, aus deren Auftreten man mit Sicherheit auf
darunterliegende Bauteile schließen konnte. Anscheinend
wurde durch Einflüsse chemischer oder biologischer (Tiefen
von etwa 1—1,5 m) Art dem Mörtel der Kalk entzogen, so daß
sich die Sandkörner auf der festen Unterlage zusammensetz-
ten. Von den Funden sind die folgenden einer näheren Be-
trachtungwert:
Putzreste mit Bemalung
Sie wurden im Kircheninnern ausschließlich auf den Böden
der Bauzustände des 8. Jahrhunderts, hauptsächlich des zwei-
ten, gefunden und haben sich dort in großen Mengen erhalten
durch die Höherlegung des Fußbodens in der Kreuzbasilika
(Abb. 225—228). Da sich über den Böden der letzteren an Be-
malungsresten so gut wie nichts erhalten hat — mit Ausnahme
von Stücken, die durch spätere Grabausschachtungen nach
oben befördert sind, aber im Charakter mit den genannten
163 Merkwürdig ist die schwankende Beurteilung der Herkunft
des Querhauses in der verdienstvollen Arbeit von J. P. Kirsch
(siehe Anm. 158). Kirsch anerkennt für die konstantinischen Quer-
häuser nur „lokale Einflüsse und persönliche Auffassungen der
Architekten" und verneint „allgemeine, liturgische und überall
vorhandene praktische Zwecke". Zur (Wieder-)„Einbürgerung" des
Querhauses in die römische Basilika zu Beginn des 9. Jahrhunderts
betont er, daß sie im „fränkischen Zeitalter" — worunter doch
wohl zu verstehen ist: unter fränkischem Einfluß — vor sich
gegangen sei, während er kurz darauf die basilikalen Anlagen im
Frankenreich nördlich der Alpen durch eben diese römischen Quer-
hausbasiliken beeinflußt sein läßt; Seligenstadt wird als Beispiel
genannt. Ich habe oben im Abschnitt IV C 5 b, Witigowobau,
gezeigt, daß Einhart mindestens bei seiner Kirche in Steinbach
den Reformvorschlägen des Aachener Planes gefolgt ist.

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