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ANHANG

PURCHARDI GESTA WITIGOWONIS M.G. SS. IV. 621.
(Purchardi Carmen de gestis Witigowonis abbatis)

Vorbemerkung
Der Zustand der Handschrift ist vom Standpunkt des Hand-
schriftenforschers durch K. Strecker wohl abschließend behan-
delt worden. Noch keine Rolle in den Untersuchungen hat
aber, soweit mir bekannt, die Frage gespielt, welche Bestim-
mung die erhaltene Niederschrift des Carmen gehabt hat. Die
Frage ist aber gerade für den, der das Carmen und besonders
seine Miniatur für die Baugeschichte auswerten will, sehr
wesentlich, weil sie eng mit der Frage verknüpft ist, ob die
bildliche Darstellung überhaupt als Beleg verwendet werden
darf.
Das Carmen ist eine Gelegenheitsdichtung im genauesten
Sinne des Wortes. Ihr Zweck ist der einer Bittschrift, die in
geschmackvoller Weise und ehrerbietiger Form doch ernste
Vorstellungen erheben soll. Sie mußte dem Abt an den Kö-
nigshof zugesandt oder mindestens bei einer Anwesenheit in
Reichenau förmlich überreicht werden. Zu diesem Zweck
mußte sie auch in der geschriebenen Form als abgeschlossenes
Ganzes erscheinen. Ist nun die erhaltene Handschrift dieses
Sendschreiben?
Bei der Untersuchung muß der Nachtrag selbstverständlich
ausscheiden, der mit den 12 ersten Versen noch auf dem letz-
ten Binnio des Hauptteils, mit den letzten 21 Versen auf der
leeren ersten Seite des folgenden Codex steht, während der
Rest von 12 + 13 = 25 Versen auf einem eingeschalteten
Zettel untergebracht ist. Der Nachtrag offenbart sich auch da-
durch als spätere Zutat. Der Anfang des Carmen (Widmung
an den Senat) beginnt mit einer völlig neuen Lage von Blät-
tern und hat mit dem vorausgehenden Codex gar nichts zu
tun. Der Schluß ging, wie gesagt, auf einem Binnio mit gerin-
gem Platzüberschluß zwanglos aus. Berücksichtigt man dazu,
daß die Handschrift zahlreiche Rasuren hat, die offenbar nicht
nur Schreibversehen, sondern Textverbesserungen zum
Grund haben (Strecker S. 771), wie sie Purchard in der Wid-
mung'selbst anregt, und weiter, daß diese Textänderungen
den wohl gleichen, mindestens aber Zeitgenössischen Schrift-
charakter wie die Urschrift haben und von den Randzusätzen
der späteren Bearbeiter deutlich unterschieden sind, so kann
wohl kein Zweifel mehr bestehen, daß wir es bei der Karls-
ruher Handschrift mit der ersten Reinschrift des Carmen zu
tun haben, die im 10. Regierungsjahr Witigowos durch Pur-
chard verfaßt und vom Convent durchgesehen und verbessert
worden ist. Ob sie selbst oder eine Abschrift Witigowo über-
geben wurde oder übergeben werden sollte, ist gleichgültig.
Für die Zwecke der baugeschichtlichen Auswertung genügt
die Feststellung, daß Text und Miniatur den Bauten Witigo-
wos zeitgenössisch und daß sie in Reichenau entstanden sind;
Dichter und Zeichner hatten die Bauten vor Augen. Die Mi-
niatur hat, als Schülerleistung, starke zeichnerische Mängel,
die über die Stilgebundenheit der Zeit hinausgehen, aber sie
strebt in ihren Architekturdarstellungen unverkennbar an,
den Münsterumbau Witigowos in seinen einzelnen Bestand-
teilen anschaulich zu machen.
Das Carmen ist also, auch von der Handschriftenkunde her
betrachtet, als vollwertige Quelle zur Baugeschichte erwiesen.

Die Handschrift (einziges Exemplar in Karlsruhe Cod. Aug.
CC V) hat keine Überschrift. Die heute gebräuchlichen Titel,
der längere von den älteren, der kürzere von den neueren
Bearbeitern gebraucht, entsprechen eigentlich nicht dem In-
halt. Wohl nehmen die Taten des Abts den Hauptteil des
Werkes ein, aber der Zweck der Dichtung ist der einer Bitt-
und Mahnschrift des Klosters an den Abt; die Erwähnung der
Leistungen des Empfängers ist nur Mittel zum Zweck. Ich
muß es aber den Sprachgelehrten überlassen, einen besser
passenden Titel zu finden.
Von der Dichtung gab es bis heute keine vollständige, ge-
schweige denn eine erläuterte Übersetzung. Der Grund liegt
offensichtlich darin, daß ihr wichtigster Inhalt, die Baunach-
richten, allein aus dem Wortlaut nicht erklärbar sind. Meine
Übersetzung hat die alleinige Aufgabe, durch möglichst wort-
getreue Übertragung die Beurteilung der Baunachrichten und
Funde zu ermöglichen. Literarischen Ehrgeiz hat sie nicht und
für die Beurteilung vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt
bin ich auf die Nachsicht der Fachleute angewiesen.
Die Anmerkungen beschränken sich auf diejenigen Stellen
des Carmen, die nicht schon in den Abschnitten IIIA und IV
C 5 b dieser Arbeit textkritisch behandelt und baugeschicht-
lich ausgewertet sind.
Übersetzung
Dem verehrungswürdigen Rat der Väter von Reichenau, dem
Eigner eines geistlichen Lebens in der Liebe Christi (widmet
dies) Purchart, um gemäß dem Willen168 solcher Erhabenheit
als Unterwürfiger in allem zu dienen.
Da doch der Quell der ganzen Weisheit sichtbar fließt, her-
geleitet aus den Strömen Eures167 Herzens, und die grünen-
den Wiesen Eurer Söhne gemäß der apostolischen Wieder-
geburt durch Forschung bewässert, so wundere ich mich, war-
um Ihr mich, den Dümmsten von diesen Allen, der ich nicht
mit einigem Recht mit einem vertrockneten Heublümchen
verglichen werden kann, geruht habt, auszuwählen, um ein
so erhabenes Werk zu schreiben, wie es im folgenden er-
scheint. Aber, wie ich zu wissen glaube, hat es Eure Väterlich-
keit, die im Inneren stets von Frömmigkeit überfließt, ge-
schmerzt, daß ich, dem Schlaf der Trägheit ergeben, tiefgesun-
ken bin und niemals aus eigenem Antrieb mich zu den reifen
Studien der Anderen aufrichten werde; und so ist mir, wie ich
deshalb glaube, nicht wegen meiner Erfahrung in dieser nütz-
lichen Kunst, sondern um dem unnützigen Müßiggang die
Heilmittel irgendeiner Arbeit zu gewähren, von Euch auf-
erlegt die Verpflichtung, die Reihe der folgenden Dinge zu
erläutern — ein gebieterischer, aber mir, dem weniger Rede-
gewandten, doch unmöglicher Gehorsam.
Denn ich beschrieb, gezwungen durch Euren Befehl, wie be-
gann und auf welche Weise unser verehrungswürdiger Herr
Abt Witigowo tugendeifrig in seiner Macht blühte, wie er
ferner zu Beginn seiner Abtswürde unseren Grundbesitz, der,
188 veile — subst. Infinitiv.
187 vestri: Gen. poss. (Habel).

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