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Rooses, Max
Geschichte der Malerschule Antwerpens: von Q. Massijs bis zu den letzten Ausläufern der Schule P. P. Rubens — München, 1881

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https://doi.org/10.11588/diglit.20661#0114
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Cultur Italiens im Cinquecento.

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Maler. Anftatt der ruhigen und infichgekehrten züchtig bedeckten Menfchen,
die in voller Kraft, aber nicht ohne Härte, in glänzenden Kleidern, aber ohne
Bewegung in den Werken der älteren Schulen begegneten, war bei den grofsen
• italienischen Meiftern eine neue Auffaffung entftanden, welche die fchöne menfch-
liche Geftalt über reiche Draperien, den reizenden Flufs der grofsen Linien und
Gruppen über die Durchführung kleiner Details, und das künftlerifche Spiel des
Helldunkels über die Harmonie der gleichmäfsig hellen und vollen Farben fetzte.
Die Liebe zur Schönheit war an die Stelle der Wahrheitsliebe, die Phantafie
an die Stelle der Empfindung getreten. Liebe, Poefie, Erhebung des Geiftes,
fchönere als irdifche Träume, fchönere als natürlich menfchliche Formen bemäch-
tigten fich des Herzens und der Hand der. italienifchen Künftler.

Und wie diefe Bewegung in der Malerei nicht für fich vereinzelt war,
fo war fie auch felbft nicht von den Malern ausgegangen. Diefe grofsen Meifter
lebten in einem Jahrhundert, welches man das der Wiedergeburt nennt, weil
es die Kunft und Literatur des griechifchen und römifchen Alterthums zu
neuem Leben erwecken follte. Bald nach der Erfindung der Buchdruckerkunft
um 1450 hatte man in Italien die grofsen alten Dichter, Redner, Philosophen
und Gefchichtfchreiber zu drucken begonnen und feit 1470 erfchien Jahr für
Jahr das eine oder andere Meifterwerk der Literatur, das gelefen, erklärt, über-
fetzt und allgemein bewundert ward. Zu gleicher Zeit verlegte man fich nicht
minder eifrig auf die Wiedergewinnung der Ueberrefte des Alterthums. Päpfte,
Fiirften und Edelleute fammelten Sculpturen, gefchnittene Steine, Medaillen
und Alles, was den Stempel der hohen Kunftentwicklung der alten Welt trug.

Was an den Werken von Griechenland und Rom in erlter Linie mit
Bewunderung erfüllte, war die Schönheit der Form. In den Verfen der claf-
fifchen Dichter, in den Ausführungen der Redner und in den Erzählungen der
Gefchichtfchreiber, überall wird das Wort als ein fein gewebtes und kunftvoll
drapirtes Kleid der Gedanken gebraucht. In den Schöpfungen der Bildhauer
find fowohl die mächtigen Muskel des Herkules wie die gefchmeidige Biegung
der Glieder der Venus, fowohl die herrliche Nacktheit wie die gefchmackvolle
Drapierung eine der Formenfchönheit gebrachte Huldigung, eine Verherrlichung
der Schönheit des Körpers. Die ftolzen Arkaden der Amphitheater, die ftaunen-
erweckenden Kuppeln, die fchlanken Säulen, der Tempel und Paläfte erwecken
die Bewunderung ihrer imponirenden Majeftät und Harmonie. Und all diefe
Durchbildung, Schönheit und Gefetzmäfsigkeit ftellte man mit Begeifterung über
das, was man Launigkeit, Härte und Rohheit des Mittelalters nannte.

Und damals ging die Kunft in Italien wieder den Weg, welchen der
menfchliche Gefchmack, folang wir die Welt kennen, immer verfolgt hat: nach
dem Ernfteren kömmt das Mildere, nach dem Majeftätifchen das Anmuthige,
nach dem Strengen das Gefchmeidige. Nach dem diifteren Aefchylos der fonnige
Sophokles; nach dem ftrengen Phidias der anmuthige Praxiteles; nach dem
träumerifchen und fcheuerweckenden Dante der ritterliche Taffo; nach Gio-
vanni da Fiefole Perugino und nach diefem fein Schüler Raffael. So wandelt
fich die Kunft auch einmal zum Guten, dann wieder zum Schlechten, bis fie
eine Umwälzung aus ihrem alten Geleife wirft, um fie denfelben Kreislauf in
fpäteren Zeiten wieder beginnen zu laffen.

Doch nicht blos in dem Gebiet von Kunft und Literatur herrfchte damals
m Italien diefe Anmuth, denn das ganze Land hatte den Einflufs einer ver-
feinerten Anfchauung erfahren. Die Zone felbft läfst ein Leben zu, das die
ormenfchönheit mehr begünftigt, als im Norden. Der Verkehr in der freien
Luft, die Spaziergänge und die vielen Kreife, in welchen die Menfchen einander
begegnen und feftlich zufammen find, diefs Alles liefs ihn anmuthige Reden und
 
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