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Schmarsow, August
Grundbegriffe der Kunstwissenschaft: am Übergang vom Altertum zum Mittelalter kritisch erörtert und in systematischem Zusammenhange dargestellt — Leipzig [u.a.], 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.15210#0148
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X.

KLEIDUNG — KUNSTHANDWERK

EIGENE BEWEGUNG UND FREMDES MATERIAL
ZWECKMÄSSIGKEIT UND GEBRAUCHSZWECK

Schmetterlingsflügel und Vogelgefieder sind wie ein farbiges
Kleid, das die Natur ihren Kindern mit auf die Welt gegeben, und
mögen mit ihrer schillernden Pracht den Neid des Menschen
erwecken. Im heißen Sommer wünscht er sich wohl das glatte
Schuppenkleid der Fische mit ihren Flossen, im Winter steht sein
Sinn nach dem zottigen Fell des Bären oder dem wolligen Vlies
der Schafe. Und diese müssen es hergeben, wenn die Kälte herein-
bricht. Der Mensch tritt ja nackt ins Leben. Diese Tatsache
wiederholt sich bei jeder Geburt. Sie wird auch wohl bei der
Entstehung unseres ganzen Geschlechtes vorgelegen haben, wie
immer wir diesen Vorgang für unser Verständnis zurechtlegen
mögen. Aber die Anlage des Menschen läßt ihm keine Ruhe,
diese Tatsache als Gegebenheit hinzunehmen. Dem lebendigen
Drange der Betätigung und des Ausdrucks folgend, legt er alsbald
Hand an sich selbst und glaubt sich erst wirklich gewonnen zu
haben, wenn er sich selber wiedergegeben und ausgestattet hat,
wie er genommen sein will.

Dieser Trieb schließt den Grund und das Ziel aller Bildung
in sich; in ihm liegt das ganze Geheimnis der menschlichen Kultur.
Mag er in seinen ersten Regungen sich auch für unsere Begriffe
noch so roh und befremdlich äußern. Die Ringe im Ohr oder in
der Nase sind, wie der Strick um die Lenden, ebensogut solche
Umgestaltungen, wie unsere Kronen oder Ordenskreuze. Es sind
für den Wilden seine Erfindungen, seine Taten, mit denen er vor-
zustellen glaubt, was er bedeuten möchte, — freilich sind es auch
Verirrungen und Fehlgeburten der schöpferischen Phantasie, die
immer dort auftreten, wo es eigentlich nichts umzuformen gibt, am
eigenen Leibe. In Ländern, wo das Bedürfnis keine Kleidung er-
 
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