Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
110 DER CREGLINGER M ARIENALTAR VON TILMAN RIEMENSCHNEIDER
ihr das Amt der Fürsprache für alle Menschen übertragen. Der Glaube an die Fürsprache der
Himmelskönigen am Jüngsten Tag führt schließlich zur dogmatischen Verbindung der Marien-
und Gerichtsportale an den gotischen Kathedralen, die häufig nebeneinander dargestellt wer-
den.549 Schiller stellt ganz richtig fest, daß „die Marien- und Gerichtsportale in einem gedankli-
chen Zusammenhang [stehen]. Der Angst, die das Weltgericht auslöst, steht in der Auferste-
hung und der Erhöhung Marias zu Christus die an dem vollkommensten Menschen schon
Wirklichkeit gewordene Erfüllung der Verheißung gegenüber“.550
Im Unterschied zu dem ersten Bildtypus der leiblichen Aufnahme Mariens als stehende
Orante, die in der Buchmalerei entwickelt wird, entsteht an den französischen Kathedralen ein
zweiter abendländischer Bildtypus. Diese beiden abendländischen Bildtypen, die sich unab-
hängig voneinander entwickelt haben, bestimmen die Bildgeschichte der Aufnahme Mariens,
wobei der zweite Bildtypus topographisch mit wenigen Ausnahmen auf Frankreich beschränkt
bleibt.551
Bevor ich die Bildgeschichte beider Bildlypen weiter verfolge, werde ich in zwei nun fol-
genden Exkursen zum einen auf die dogmatischen und liturgischen Schriften im Hochmittelal-
ter eingehen und dabei ikonographische Sonderformen der Aufnahme Mariens diskutieren und
zum anderen nach möglichen Vorlagen oder Bildfindungen der Aufnahme Mariens vor 1000
fragen. Es wird sich zeigen, daß es möglich ist, viele Sonderformen, die in der Forschung ganz
unterschiedlich bewertet werden, zu deuten, wenn man die Bildtypen in den Bildwerken for-
mal unterscheidet und nach ihrem möglichen Kontext fragt, in dem sie stehen.
6.3.5 Darlegung der dogmatischen und liturgischen Schriften des Hoch-
mittelalters in bezug auf die leibliche Aufnahme Mariens und ihre ikono-
graphischen Sonderformen vom 11. bis 13. Jahrhundert
Die erstarkende Marienfrömmigkeit im 11. Jahrhundert und der Beginn mariologischer Re-
flexionen, die zu einer ersten Blütezeit der Marienverehrung im 11. und 12. Jahrhundert füh-
ren, begünstigen die Entstehung der beiden Bildtypen einer leiblichen Aufnahme Mariens in1
Abendland.552 In dieser Zeit werden zum einen die apokryphen Texte, die von einer Aufnahme
Mariens berichten, in Predigten und Marienlegenden aufgenommen, und zum anderen wird
eine theologisch-dogmatische Begründung der leib-seelischen Präsenz Mariens im Himmel
versucht, die sich nicht auf die Apokryphen bezieht und sich nicht aus ihnen zu legitimieren

549 Vgl. LAON, Kathedrale, Westportal, 1180-1200; PARIS, Kathedrale, Westportal, um 1200-1215. In LAUSANNE, Käthe-
drale, Portal, 1216 - 1220, sind die beiden Reliefs sogar direkt unter der Majestas Domini abgebildet.
550 Schiller 1980, S. 108, vgl. auch S. 116.
551 Taddeo di Bartolo, Fresco, Aufnahme Mariens, um 1408, Siena, Pinacoteca Nazionale; Ders., Aufnahme Marien8’
Rom, Pinacoteca Vaticana.
552 SCHEFFCZYK 1974, S. 26.
 
Annotationen