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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0074
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K. Lange, höre, so kann ich mich eines geheimen Lächelns nicht erwehren. Diese phan-
Die Ent- tasievollen, zuweilen allzu phantasievollen Erfinder, diese Schöpfer neuer kapri-
stehung ziöser, zuweilen allzu kapriziöser Formen als Verfechter einer Theorie, die
der deko- streng durchgeführt der Phantasie überhaupt gar keine Entwicklungsmöglichkeit
rativen bieten, das Kunstwerk geradezu zum Handwerksprodukt degradieren würde!
Kunst- Das entbehrt nicht eines gewissen humoristischen Beigeschmacks. Ich habe
formen. dabei manchmal an den Wolf im Schafspelz denken müssen.

Was mich aber immer am meisten gewundert hat, das ist, daß diese
Grundsätze von der Kritik als spezifisch modern proklamiert werden, während
sie tatsächlich ein ganz erkleckliches Alter haben. Stammen sie doch von
keinem Geringeren als Gottfried Semper, der sie in seinem berühmten 1860
erschienenen ..Stil" und einigen schon vorher gehaltenen, später in den ..Klei-
nen Schriften'' publizierten Vorträgen ausführlich begründet hat. Durch Semper
sind sie dann in alle kunstgewerblichen Lehrbücher übergegangen, und ich
behaupte wohl nicht zu viel, wenn ich sage, daß sie jedem, der eine Kunst-
gewerbe- oder Baugewerkschule besucht hat, vollkommen geläufig sind, so
geläufig, daß er sich über ihre Berechtigung gar keine Gedanken mehr macht.

Solche Gedanken wollen wir uns nun aber machen, indem wir fragen, ob
es denn nicht neben dem Gebrauchszweck und Material noch etwas anderes
gibt, was die Kunstform bestimmt, ob es nicht einen künstlerischen Trieb gibt,
der mit der Rücksichtnahme auf diese beiden banausischen Gesichtspunkte
durchaus nicht identisch ist, und ob es nicht vielleicht gerade dieser Trieb
ist, der das Handwerksprodukt erst zum Kunstwerk stempelt.

Ich teile meinen Stoff in drei Teile, indem ich im ersten Teil eine Ent-
wicklung der eben charakterisierten meiner Ansicht nach falschen Theorie gebe,
im zweiten an dieser Theorie Kritik übe und im dritten den wahren Ursprung
der Kunstformen zu ermitteln suche.

ier muß ich nun zunächst zugunsten Sempers geltend
machen, daß es ein Irrtum ist, wenn man ihm vorwirft,
er habe die Kunstform rein aus dem Material und der
Technik abgeleitet. Im Gegenteil, gerade er ist es, der
die ..Materialisten" unter den Architekturschriftstellern
tadelt, weil sie ..die Idee zu sehr an den Stoff schmie-
deten, da doch vielmehr," so setzt er hinzu, ..der Stoff der Idee dienstbar ist
und nicht einmal notwendig ein Faktor der Kunsterscheinung zu sein braucht".
Was Semper mit den letzten Worten meinte, ist klar: Man braucht den Stoff
als solchen, das Material, aus dem ein Kunstgegenstand besteht, nicht not-
wendig zu sehen, er kann auch verdeckt, verborgen sein, wie z. B. beim Putz-
bau in der Architektur und bei allen Verkleidungstechniken im Kunstgewerbe,
die ja gerade Semper so ausführlich behandelt hat. Daraus aber geht, so
meint er offenbar, hervor, daß das Material die Kunstform nicht bestimmt.

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