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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Ganzenmueller, Agnes: Über die Bedeutung der Handarbeiten in der heutigen Kunstentwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0127
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ÜBER DIE BEDEUTUNG DER HANDARBEITEN
IN DER HEUTIGEN KUNSTENTWICKLUNG.

Die Handarbeit durfte sich bis vor kurzer Zeit in Künstlerkreisen keiner
großen Beachtung erfreuen. Wenn man vor 10, 15 Jahren etwa von Hand-
arbeiten, meist mit dem Zusatz „weibliche", sprach, meinte man nichts anderes
damit, als die üblichen Weihnachts-, Hochzeits- und Geburtstagsgeschenke, mit
denen die unglücklichen Gefeierten von den Damen ihrer Bekanntschaft über-
rascht wurden. An sinnlose technische Feinheiten wurde hierbei eine Unmenge
Zeit und Kraft verschwendet, und niemanden fiel es bei, daß man diese Zeit
und diese Kräfte auch dazu verwenden könnte, den alten Techniken neue Ge-
danken abzuringen, Vereinfachungen zu ersinnen und vor allem neue Formen
hervorzubringen. Mechanisch wurde Muster auf Muster abgestickt und ab-
gezeichnet. Es wurde ein wahrer Sport mit dem Sammeln solcher Muster
betrieben, und wo ein altes Ornament nicht ohne weiteres zu verwenden war,
wurde aus den vorhandenen Schätzen mühsam etwas Passendes zusammen-
gestoppelt. Die Handarbeit in diesem Sinne war wohl eine unvermeidliche
Begleiterscheinung des täglichen Lebens, aber niemand dachte daran, diese
Erscheinung zu einer angenehmen zu machen, statt der mit Seufzen gefertigten
und mit Seufzen empfangenen großen und kleinen Geschmacklosigkeiten Kunst-
werke zu schaffen, die zu einem wirklichen Schmuck des Lebens werden
könnten.

Die Künstler und Künstlerinnen dachten am wenigsten daran, mit solchen
Dingen sich abzugeben; denn die kunstgewerbliche Bewegung war damals
noch ganz in ihren Anfängen, und es galt als ein Herabsteigen, wenn der
Künstler mit der angewandten Kunst sich beschäftigte.

Aber da erstanden dem Kunstgewerbe Männer, die so Hervorragendes
leisteten, daß an seiner Gleichberechtigung mit den freien Künsten nicht mehr
zu zweifeln war; Männer, die es verstanden haben, unsere Umgebung zum
Kunstwerk umzuschaffen, und diese waren es auch, die sich zuerst jenes so
lange vernachlässigten Zweiges der Kunst, der Handarbeiten, wieder annahmen.

Der Einfluß Japans, der gerade zu jener Zeit sich auf allen Gebieten unserer
Kultur so eindringlich fühlbar machte, mag auch hier wirksam gewesen sein.
Denn das Beispiel und der Einfluß dieses künstlerisch so begabten Volkes
hat unser ästhetisches Empfinden zuerst wieder auf die Fläche hingewiesen.
Wir lernten wieder die Fläche als das, was sie ist, behandeln, indem wir in der

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