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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0077
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werden folglich dazu vorzugsweise an-
gewendet. Und dadurch erhält auch das
Material Einfluß auf die Kunstform. Es
ist ja nun bekannt, daß Semper gerade
diese Seite des Kunstgewerbes beson-
ders ausführlich begründet hat, daß er
sich bei allen Techniken, die er in seinem
Stil behandelt, bemüht hat, den Zusam-
menhang der ornamentalen Formen mit
der Technik nachzuweisen, und daß er
diesen Nachweis in sehr vielen Fällen
so formuliert hat, daß man geradezu
den Eindruck gewinnen muß, als ob
er die Kunstform aus der Technik
herleite.

Nun war sich aber Semper wohl be-
wußt, daß trotz dieser beiden Faktoren,
die ja ihrer Natur nach von der histo-
rischen Entwicklung, der Mode usw.
unabhängig sind, die Formen in ver-
schiedenen Zeiten und bei verschiedenen
Völkern einen ganz verschiedenen Cha-
rakter haben. Er fügt demnach als

drittes die lokalen, ethnographischen,
klimatischen, religiösen und politischen
Einflüsse hinzu. Und da auch innerhalb der nationalen Verbände und der
Zeiten die Formen mannigfach wechseln, so nennt er endlich noch

an vierter Stelle die persönlichen Einflüsse, unter denen er wieder die
von den Auftraggebern ausgehenden und die den Künstlern zu verdanken-
den unterscheidet.

Aus diesen vier Einflüssen leitet nun Semper das ab, was man Stil nennt.
Der ..Stil" ist, wie er sich mathematisch ausdrückt, eine ..Funktion" dieser
vier „Koeffizienten". Aendert sich auch nur einer dieser letzteren, so ändert
sich auch der Stil, d. h. die ganze Kunstform. Und je nach dem Koeffizien-
ten, den wir gerade im Auge haben, reden wir entweder von Materialstil oder
von Zeitstil, Volksstil, dem Stil eines bestimmten Künstlers usw.

Was bei dieser Einteilung besonders auffällt, das ist das Fehlen der Natur-
nachahmung oder Naturanalogie. Daß Semper dieser gar keine Bedeu-
tung zugesprochen haben sollte, ist von vornherein ganz unwahrscheinlich.
Denn er mußte sich doch sagen, daß große Gebiete der dekorativen Kunst,
z. B. das ganze vegetabilische Ornament ohne den Gesichtspunkt der Natur-
analogie, der Analogie des organischen Lebens gar nicht zu verstehen seien.
Und in der Tat gibt er auch in der Einleitung seines Stils eine Auseinander-
setzung über die Elemente des Reinschönen, des Reinformalen, die diesem
Gesichtspunkt einigermaßen Rechnung trägt. Denn er führt darin die For-
men der Symmetrie, Eurhythmie, Proportionalität, Richtung usw. auf die Ge-
staltungsprinzipien des organischen Lebens, besonders des vegetabilischen
Lebens zurück. Das heißt doch, er erklärt ihre Anwendung in der Kunst

K. Lange,
Die Ent-
stehung
der deko-
rativen
Kunst-
formen.

D. Nr. 459.

Bernhard Pankok in Stuttgart, Intarsie des Musikzimmers der
Weltausstellung in St. Louis (vgl. andere Intarsien Heft 3,
1904 05 dieser Mitteilungen). Ausgeführt von der Tntarsien-
werkstätte von G. Wülfel in Stuttgart.

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