K. Lange, j " Gerade damals, in den 70er und auch
Die Ent- k ■ noch in den 80er Jahren des vorigen
stehung "V Jahrhunderts, hatte sich unter den
der deko- iL* ' Kunsthistorikern eine wahre Manie ent-
rativen \ wickelt, Materialien und Techniken als
Kunst- / «• 11 \ Ursprung bestimmter Formen nachzu-
formen, weisen. Bei jeder nur einigermaßen
auffälligen Kunstform frug man sich
sofort: Aus welcher Technik ist sie
entstanden? Das heißt in welchem
Material ergibt sie sich unmittelbar
aus den Bedingungen des Stoffes und
seiner Bearbeitung ? Man begnügte sich
nicht, in der Plastik von Marmor- und
Bronzestil zu reden, was ja bis zu
einem gewissen Grade berechtigt war,
sondern man erklärte auch die knorrige
Bildung der Falten auf deutschen Ge-
mälden des 15. und 16. Jahrhunderts
aus dem Vorbilde der Holzskulptur,
man führte die glatte sorgfältige Aus-
führung mancher italienischer Quattro-
centogemälde auf die gleichzeitige
Tätigkeit der betreffenden Maler im
Goldschmiedehandwerk zurück, man
redete sehr wichtig von einem Stein-
stil, Metallstil, ja sogar Lederstil in der
Malerei. Und bei alledem nahm man,
der Semperschen Theorie entsprechend, als selbstverständlich an, daß die be-
treffenden Formen sich immer nur in einem Material zuerst entwickelt haben
könnten, und erst nachher von ihm auf andere übertragen, in andere Techniken
umgesetzt worden seien. Ja, wenn man sich nur recht energisch in diese
Theorie vertiefte, so kam man schließlich geradezu zu der Ueberzeugung, daß
der menschliche Geist an der Entstehung dieser Formen gar keinen Anteil
habe, daß sie sich vielmehr in ähnlicher Weise wie die Naturformen, d. h. mit
einer gewissen rein mechanisch wirkenden Naturnotwendigkeit entwickelt hätten.
^egen diese ..materialistische" Kunstauffassung hat sich nun
1 schon seit einer Reihe von Jahren eine lebhafte Opposition
erhoben, an deren Spitze der kürzlich verstorbene "Wiener
Kunsthistoriker Alois Riegl stand, der in seinem 1893 er-
schienenen Buche .,Stilfragen'' gegen die Uebertreibungen
der Semperschule mit Erfolg Front gemacht und unter
anderem nachgewiesen hat, daß man die textile Kunst durchaus nicht für alle
jene Formen geometrischen Charakters verantwortlich machen kann, die man
in der Regel auf sie zurückführt.
Trotzdem kommt man in den Kreisen der kunstgewerblichen Praktiker immer
wieder auf diese Irrtümer zurück. Und zwar nicht nur im offenbaren Wider-
D. Nr. 445.
Friedrich Adler, Laupheim v
Angetragenes Stnckornament
München,
D. Nr. 697.
74
Die Ent- k ■ noch in den 80er Jahren des vorigen
stehung "V Jahrhunderts, hatte sich unter den
der deko- iL* ' Kunsthistorikern eine wahre Manie ent-
rativen \ wickelt, Materialien und Techniken als
Kunst- / «• 11 \ Ursprung bestimmter Formen nachzu-
formen, weisen. Bei jeder nur einigermaßen
auffälligen Kunstform frug man sich
sofort: Aus welcher Technik ist sie
entstanden? Das heißt in welchem
Material ergibt sie sich unmittelbar
aus den Bedingungen des Stoffes und
seiner Bearbeitung ? Man begnügte sich
nicht, in der Plastik von Marmor- und
Bronzestil zu reden, was ja bis zu
einem gewissen Grade berechtigt war,
sondern man erklärte auch die knorrige
Bildung der Falten auf deutschen Ge-
mälden des 15. und 16. Jahrhunderts
aus dem Vorbilde der Holzskulptur,
man führte die glatte sorgfältige Aus-
führung mancher italienischer Quattro-
centogemälde auf die gleichzeitige
Tätigkeit der betreffenden Maler im
Goldschmiedehandwerk zurück, man
redete sehr wichtig von einem Stein-
stil, Metallstil, ja sogar Lederstil in der
Malerei. Und bei alledem nahm man,
der Semperschen Theorie entsprechend, als selbstverständlich an, daß die be-
treffenden Formen sich immer nur in einem Material zuerst entwickelt haben
könnten, und erst nachher von ihm auf andere übertragen, in andere Techniken
umgesetzt worden seien. Ja, wenn man sich nur recht energisch in diese
Theorie vertiefte, so kam man schließlich geradezu zu der Ueberzeugung, daß
der menschliche Geist an der Entstehung dieser Formen gar keinen Anteil
habe, daß sie sich vielmehr in ähnlicher Weise wie die Naturformen, d. h. mit
einer gewissen rein mechanisch wirkenden Naturnotwendigkeit entwickelt hätten.
^egen diese ..materialistische" Kunstauffassung hat sich nun
1 schon seit einer Reihe von Jahren eine lebhafte Opposition
erhoben, an deren Spitze der kürzlich verstorbene "Wiener
Kunsthistoriker Alois Riegl stand, der in seinem 1893 er-
schienenen Buche .,Stilfragen'' gegen die Uebertreibungen
der Semperschule mit Erfolg Front gemacht und unter
anderem nachgewiesen hat, daß man die textile Kunst durchaus nicht für alle
jene Formen geometrischen Charakters verantwortlich machen kann, die man
in der Regel auf sie zurückführt.
Trotzdem kommt man in den Kreisen der kunstgewerblichen Praktiker immer
wieder auf diese Irrtümer zurück. Und zwar nicht nur im offenbaren Wider-
D. Nr. 445.
Friedrich Adler, Laupheim v
Angetragenes Stnckornament
München,
D. Nr. 697.
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