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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0085
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spruch zum eigenen Schaffen, wie
wir das bei van de Velde nach-
gewiesen haben, sondern auch in
voller Uebereinstimmung damit.
Die Ueberzeugung, daß die For-
men, um schön zu sein, vor allem
praktisch und materialgerecht sein
müßten, hat, besonders im Gebiet
der Kunstschreinerei, zu einer
Richtung geführt, die man als
die geometrisch-primitivistische be-
zeichnen könnte. Diese Richtung,
die gegenwärtig besonders von
den Schotten und Wienern ver-
treten wird, die aber auch in den
letzten Jahren besonders in Darm-
stadt und München vorübergehend
als die einzig gesunde anerkannt
worden ist, geht darauf aus, die
ganze Möbeltechnik auf die denk-
bar einfachsten Formen zurückzu-
schrauben. Ihr Ideal eines Möbel-
tischlers wäre etwa der Urmensch,
der nur mit einer Axt und Säge
bewaffnet in einem "Walde hauste
und mit der denkbar größten Er-
sparnis von Muskel- und Gehirn-
arbeit in ganz elementaren recht-
eckigen Formen sich selber sein
Möbel zurecht zimmerte. Diese Leute reden sich geradezu ein, die Schönheit
eines Möbels bestünde in seiner Einfachheit und Materialgerechtigkeit. Der
ästhetische Genuß, den man an ihm hätte, wäre die Erkenntnis, daß seine
Formen ganz aus dem Material und dem Gebrauchszweck entwickelt seien.
Jede Schweifung und Knickung der Form oder gar jedes Flächenornament
sei vom Uebel, weil es sich nicht aus dem Zwecke und der Technik ergebe.

Es läßt sich nicht leugnen, daß dieser ..Primitivismus" in gewisser Weise
als eine berechtigte Reaktion gegen die kapriziösen Ausschreitungen einiger
moderner Nutzkünstler aufgefaßt werden kann, und man wird sogar zugeben,
daß ihm ein gewisser richtiger Kern zugrunde liegt. Denn es kann kein
Zweifel sein, daß Gebrauchszweck und Material einen großen Einfluß auf die
Form haben. Gewisse Maße, also auch gewisse Proportionen, das ungefähre
Verhältnis der Teile eines Gerätes zueinander, ist durch sie gegeben. Die
Rücksichten auf sie bannen die Erfindung des Künstlers in bestimmte Gren-
zen, legen seiner Phantasie gewisse Fesseln auf. Sie bilden gewissermaßen
die Grundlage, den Ausgangspunkt, bei dem die künstlerische Tätigkeit ansetzen
muß, und den sie niemals völlig verleugnen kann.

Allein es ist ein Irrtum, zu glauben, damit sei die Kunstform schon gefunden.
Und es ist nicht schwer, nachzuweisen, daß die Kunstform etwas ganz anderes

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