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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0101
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D. Nr. 198.

diejenigen For-
men herausge-
griffen, in denen
sich eine Kraft
und Bewegung
ausspricht, und
er hat diese
Formen an den
Stellen und für
die Zwecke ver-
wendet, bei de-
nen er das Be-
dürfnis hatte, die
Vorstellung ge-
rade der Kraft
und Bewegung
zu erzeugen, der
sie in der Na-
tur Ausdruck
geben.

Daß man die- Walter Ortlieb in Berlin, Truhe.

ses noch immer

nicht zugeben, sondern solche Formen mit einer ganz mystischen mechanischen
Einfühlungstheorie und dem Hinweis auf allerlei Sinnestäuschungen erklären
will, wird nur dadurch verständlich, daß man dabei nicht an die zahlreichen
nachweislichen Analogieformen der Natur denkt, die es in den dekorativen
Künsten gibt. Auch macht man sich offenbar nicht klar, daß der Begriff
Nachahmung ein ganz relativer ist und daß es schließlich dem Erfolg nach
auf dasselbe herauskommt, ob eine Form mehr oder weniger genau an die
Natur erinnert. Schon die gebogene Linie an sich, schon die Schwellung und
Einziehung der Form überhaupt, ja jedes von krummen Flächen umschlossene
Glied ist, wo es in der dekorativen Kunst vorkommt, als ein organischer An-
klang aufzufassen. Denn die Materie an sich fordert, wie wir gesehen haben,
meistens die grade, ebenflächige Bearbeitung. Die gebogene Form steht sehr
häufig in einem Gegensatz sowohl zu den Forderungen des Gebrauchszweckes
als auch zu denen der Materie. Und daraus geht mit absoluter Sicherheit
hervor, daß sie einem rein ästhetischen Bedürfnis ihre Entstehung verdankt.
Es gehört freilich eine große Kenntnis der Naturformen dazu, um im einzelnen
Falle genau sagen zu können: Diese Biegung oder Knickung, diese Schwellung
oder Zusammenziehung, diese Schweifung oder Drehung ist diesem oder jenem
Naturgebilde entlehnt. Und vielleicht könnte der Künstler selbst im einzelnen
Falle nicht einmal immer sagen, wo er seine Motive her hat. Das schließt
aber keineswegs aus, daß sie von der Natur entlehnt sind. Denn die Natur
ist unendlich reich an Formen und Linien, und ich glaube nicht, daß es im
ganzen Gebiet der dekorativen Kunst irgendeine Form gibt, für die man nicht,
wenn man sorgfältig suchte, irgendwo in der Natur eine Analogie nachweisen
könnte. Man kann mit voller Sicherheit behaupten, daß es keine Linie oder
Form gibt, die der Mensch völlig frei zu erfinden brauchte. Für alle liegen

K. Lange,
Die Ent-
stehung
der deko-
rativen
Kunst-
formen.

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