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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0104
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K. Lange, res Material erinnern darf.* Es ist dies ein sicherer Beweis, daß unser ästhe-
Die Ent- tischer Genuß keineswegs nur darin besteht, daß wir uns der Illusion des
stehung Organischen hingeben, sondern gleichzeitig darin, daß wir uns trotz dieser
der deko- Illusion doch immer bewußt bleiben, ein totes Gebilde aus bestimmtem Ma-
rativen terial, einem Material mit bestimmten Arbeitsbedingungen vor uns zu sehen.
Kunst- Gerade diese Doppelnatur des Kunstgewerbes, die eine Zweiheit unserer Vor-
formen, stellungsreihen bewirkt, ist aber nach der Illusionstheorie für den ästhetischen
Genuß ausschlaggebend.

So ist also die dekorative Kunst, soweit sie überhaupt Kunst ist, genau auf
dieselbe treibende Kraft, auf dasselbe Illusionsbedürfnis zurückzuführen, wie
die Malerei und Plastik und Schauspielkunst und alle anderen Künste. Erst
durch das richtige Verständnis der Illusion wird ihre Gleichberechtigung mit
den fälschlich so genannten hohen Künsten klar bewiesen. Daß sie auch eine
handwerksmäßige Seite haben, schließt sie noch keineswegs aus der Kunst aus.
Denn wenn sich auch die Schöpfungen der Malerei und Plastik durch das
Fehlen des praktischen Zwecks von ihr unterscheiden, so muß doch betont
werden, daß auch ihnen eine praktische Seite innewohnt, das ist das Hand-
werk bei der Ausführung, die Technik. Man kann, wenn man will, auch bei
einem Gemälde die malerische Technik, den Auftrag und die Behandlung der
Farbenpigmente als Werkform, als illusionsstörendes Element bezeichnen, und
auch bei der Plastik bleibt im vollendeten Kunstwerk vieles von der Arbeit
als technisches Residuum stehen, was uns nicht in Illusion versetzt, sondern
vielmehr aus ihr herausreißt. Das Stehenbleiben und Sichtbarmachen der
technischen Herstellungsmittel ist in allen Künsten ein besonderes Mittel, die
Wirkung zu steigern. Man weiß, welche Wirkung Frans Hals durch das
rücksichtslose Nebeneinandersetzen der Pinselstriche erzielt, wie Rodin und
Klinger die Weichheit ihres Marmorfleisches durch das Stehenlassen des rohen
Marmorblocks an einzelnen Stellen zu steigern wissen. Ganz ebenso soll uns
auch das dekorative Kunstwerk nicht in eine völlige Illusion der organischen
Natur versetzen, sondern nur zu dem ..Spiel der geistigen Kräfte" anregen, in
dem schon Kant und Schiller das Wesen des ästhetischen Genusses erkannten.

Und da wir einmal mit Semper begonnen haben, so wollen wir auch mit
Semper schließen, indem wir nachweisen, daß auch er das Wesen der Kunst in
der Illusion erkannt und mit einem Spiel verglichen hat. In der Einleitung
zu seinem Stil (S. XXI) heißt es: ..Was wir mit Schönheitssinn, Freude am Schö-
nen, Kunstgenuß, Kunsttrieb usw. bezeichnen, ist in erhabenerer Sphäre analog
mit denjenigen Trieben, Genüssen und Befriedigungen, durch welche die Er-
haltung des gemeinen tellurischen Daseins bedungen ist. . . . Umgeben von

* Im letzteren Sinne ist wohl auch Sempers Bemerkung, daß das Material nicht immer sichtbar
zu sein brauche, zu verstehen.

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