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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Mayer, J.: Das neue Frauenkleid
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0111
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D. Nr. 811.

DAS NEUE FRAUENKLEID.

Die Bestrebung, eine Aenderung in der Frauenkleidung herbeizuführen, wird
noch vielfach mißverstanden und will auch von vielen nicht verstanden werden.
Man hält eine Kleiderangelegenheit nicht für wichtig genug, um sich ernst
mit ihr zu befassen. Und doch ist es eine bedenklich ernste Sache und es
waren ernste Männer, weitsehende, klar denkende, mutige Frauen, die an der
Gedankenlosigkeit der Gewohnheitsmenschen zu rütteln wagten, welche die
Schädigung des Frauenkörpers und der Frauengesundheit durch die seit-
herige Kleidung klar legten, das blinde Nachahmen der sinnwidrigsten Mode-
torheiten geißelten und Abhilfe verlangten.

Menschen, die schärfer sehen und feiner empfinden als der Durchschnitt,
und die gegen kulturelle Schäden kämpfen, gab es zu allen Zeiten, aber es
muß ein gewisses Uebermaß eines Mißbrauchs bestehen, wenn sie gehört und
verstanden werden sollen.

Einer der Schärfsten, der in kernigen, oft derb kräftigen Worten gegen die
Unnatur Mode ins Feld zog, war Friedr. Theod. Vischel". Fast ein Viertel-
jahrhundert hat es gedauert, bis sein Vorschlag, den er den Frauen machte,
sich verwirklichte. Er sagt in seinem Schriftchen ..Mode und Zynismus", es
gehöre ein fast übermenschlicher Mut dazu, sich anders zu kleiden, als Alle.
Da der Einzelne nichts vermöge, gibt er den Rat: die Frauen sollen sich
zusammenschließen, sollen mit Künstlern von Geschmack eine vernünftige
Kleiderform beraten, nichts Gesuchtes, nichts Theatralisches, nichts puri-
tanisch Einfaches, nur einmal wieder Rückkehr zum Kleid mit einfach fallen-
den Falten. Die Zeit war noch nicht reif für seine Gedanken, auch hat
Vischer nur als Aesthetiker gepoltert. Inzwischen haben aber auch Aerzte
immer dringlicher ihre Stimmen erhoben, und so vollzog sich vor etwa einem
Jahrzehnt das, was Vischer meinte: ..Die Frauen taten sich zusammen und be-
rieten sich mit Künstlern und Aerzten." Ihre Forderungen hießen: Abände-
rung der seitherigen Frauenkleidung nach den Gesetzen der Vernunft und
den Gesetzen der Schönheit.

Der gesunde Menschenverstand verurteilt in erster Linie die Einschnürung
des weiblichen Körpers und verlangt die korsettlose Kleidung. Da aber ohne
Korsett die schweren Kleiderröcke in die Weichteile der Taille einschneiden
würden, müssen sie einen anderen Stützpunkt erhalten. Das Zukunftskleid der
Frau muß nach neuen Prinzipien konstruiert werden.

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