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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0093
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3. Schinkel und Ranch. —- 4. Die Romantiker in Frankreich.

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einer kleinen Statuette, der Jungfer Lorenz von Tangermünde, die nach der Sage im Walde
sich verirrt und von einem Hirsch in die Stadt zurückgetragen wurde, spricht sich ein Rest
romantischer Neigungen noch am deutlichsten aus. Freudig dagegen und mit voller Seele ging
Rauch an die Bildung klassisch-idealer Gestalten: die sechs Viktorien in der Walhalla bei
Regensburg (für Charlottenburg in Bronze noch einmal geschaffen), in denen das einfache Motiv
des Kranzspendens eine so mannigfache, stets wirksame Verwendung gefunden, gehören zu den
hervorragendsten und eigentümlichsten Leistungen seiner Kunst (Abb. 75).
Der Verherrlichung historischer Größen, berühmter Zeitgenossen war Rauchs Kunst vor-
wiegend gewidmet. Es galt dabei die Aufgabe zu lösen, die von der Antike abgeleiteten Stil-
gesetze mit dem Recht der historischen Erscheinung zu versöhnen, zwischen den idealen Formen
und der historischen Erscheinung eine harmonische Verbindung herzustellen, also keine kon-
ventionelle, zeitlose Tracht, sondern Anschluß an das wirkliche Kostüm; Porträtähnlichkeit der
Köpfe, aber eine geschlossene, nicht die augenblickliche Stimmung, sondern den dauernden allge-
meinen Charakter ausdrückende Haltung der Gestalten. Hier finden Rauchs Mantelfiguren ihre
Erklärung. Der Mantel, den er mit Vorliebe seinen Helden über die Schultern wirft, ist
kein äußerlicher Notbehelf, vielmehr der Ausdruck einer bewußten künstlerischen Absicht, bestimmt,
der Gestalt eine geschlossenere plastische Form zu verleihen. Auch in seinen Reliefarbeiten
bemüht sich Rauch, zwischen der klassischen Überlieferung und der historischen Wahrheit zu
vermitteln.
Rauchs Schule umfaßt beinahe das ganze jüngere Bildhauergefchlecht Deutschlands. Zu
seinen ältesten und begabtesten Schülern gehört Friedrich Drake aus Pyrmont (1805—1882),
der sich in seinen Standbildern: Schinkel, Rauch u. a., dem Meister eng anschloß, in seinen Relief-
darstellungen (Denkmal König Friedrich Wilhelms III. im Tiergarten, Abb. 76) durch die Naivetät
der Empfindung und den feinen poetischen Sinn fast alle Genossen überragte (Abb. 77). Für
die Behandlung des Reliefs in Rauchs Schule bietet Hermann Schievelbeins (1817—1867)
großer Fries im griechischen Hofe des Neuen Museums ein gutes Beispiel. Auch Gustav
Bläser aus Düsseldorf (1813—1874), der namentlich als Tierbildner berühmte August Kiß
aus Schlesien (1802—1865), der technisch gut geschulte, in der künstlerischen Anschauung viel-
fach schwankende Bernhard Afinger (1813—1882) aus Nürnberg, der Schöpfer der Bonner
Arndtstatne und zahlreicher Grabmonumente, endlich außer vielen anderen auch der spätere
Führer der deutschen Bildhauer Ernst Rietschel danken der Werkstätte Rauchs ihre Ausbildung.
Das glänzendste Denkmal der Schule bleiben die acht Marmorgruppen auf der Berliner Schloß-
brücke, die das Leben des Kriegers in antik-mythologischem Gewände schildern.
4. Die Romantiker in Frankreich.
Der furchtbare Zusammensturz des Napoleonischen Kaiserreichs, der Wechsel der Regierung,
die Änderung der Verfassung betäubten in den ersten Jahren der Restauration die tief ge-
demütigte Nation und ließen sie den Atem anhalten, bis wieder Ruhe und Besinnung in die
Geister einkehrte. Dann aber, wie wenn künstlich gestautem Wasser Plötzlich alle Hindernisse
weggezogen werden, ergoß sich in mächtigem Strom eine Flut von Gedanken, Empfindungen
und Leidenschaften über die so lange zurückgesetzten gebildeten Kreise Frankreichs. Die politische
Revolution erschien beendet, die Revolution des Geistes begann. Die Weltanschauung des
achtzehnten Jahrhunderts, von Männern wie Voltaire, Rousseau, Diderot getragen, genügte
nicht mehr. Zwar herrschte noch im Bürgertum der Voltairekultus, zumeist durch die Über-
griffe des Klerus hervorgerufen und genährt, doch fehlte viel, daß die kritische, nur aufklärende,
nicht aufbauende Richtung der Enzyklopädisten die Bildung bestimmt hätte. Tie Legende der
 
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