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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0115
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6. Ingres und die Wiederbelebung der klassischen Richtung.

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Ingres wurde 1780 in Montauban geboren und zuerst von seinem Vater, der selbst die
Kunst trieb, unterrichtet. Im Jahre 1796 kam er in Davids Atelier und lernte hier das
gründliche, genaue Zeichnen, das ihm vor den Romantikern einen so großen Vorsprung gab und
bei der Achtung der französischen Künstler vor einer korrekten, festen Zeichnung den Einfluß
auf die jüngere Generation sicherte. Obschon er bereits 1801 den römischen Preis gewonnen
hatte, trat er doch die Reife nach Rom der erschöpften Staatsmittel wegen erst nach fünf
Jahren an. Wie eine Offenbarung erschienen ihm in Rom Raffaels Werke, die er eifrig stu-
dierte, auch kopierte und deren Einfluß sich in seinen Werken wiederholt deutlich zeigt. Bereits
in dieser ersten römischen Periode entwarf Ingres mehrere Kompositionen, an die er erst am
Abend feines Lebens die letzte Hand legte, z. B. Venus Anadyomene und Oedipus vor der


97. Bildniszeichuung, von I. A. D. Ingres.

Sphinx. Dieses Zurücklegen und Wiederausnehmen älterer Kompositionen, die öftere Wieder-
holung eines Bildes (natürlich mit einzelnen Veränderungen) find für die ruhig bedächtige, sich
stets gleichbleibende Natur des Mannes charakteristisch. Denn auch das muß betont werden,
daß Ingres schon frühzeitig die Vielseitigkeit feiner künstlerischen Natur offenbarte. Die
mannigfachen Richtungen, die er einschlug, 'find nicht als Entwicklungsstufen, die sich ablösen,
aufzufasfen; sie schwebten bereits in seinen jungen Jahren feiner Phantasie mit merkwürdiger
Klarheit vor und hielten sich schon damals das Gleichgewicht. Beinahe für jeden Bilderkreis,
den Ingres verkörperte, lassen sich aus früheren und späteren Jahren Beispiele nachweifen.
Dem Kultus des Nackten huldigte er in der Venus Anadyomene, in der Odaliske, die sich von
einer Sklavin mit Musik die Langeweile vertreiben läßt, und in der Quelle, der köstlichsten
Schöpfung seines Greifenalters (1856, Abb. 98). Dies Bild überragt an Wohllaut der Linien,
 
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