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Springer, Anton; Osborn, Max [Hrsg.]
Handbuch der Kunstgeschichte (Band 5): Das 19. Jahrhundert — Leipzig, 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.30792#0535
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6. Kunst und Leben.

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historischen Stile gerichteten Bemühungen der Staatsanstalten aus dem Festlande nicht gelingen
konnte, weil sie die inneren Beziehungen zum modernen Leben außer Acht ließen, glückte hier,
wo man die heimische Überlieferung organisch sortzubilden bestrebt war. Die Bewegung steht
im engsten Zusammenhang mit der in der Architektur. Auch im Kunstgewerblichen waren die
maßgebenden englischen Persönlichkeiten niemals darauf aus, um jeden Preis ein Neues zu
finden. Ältere nationale Vorbilder sollten hier ebensowenig mißachtet werden wie irgendwo
sonst im öffentlichen oder privaten Leben des Volkes. Die Formen der Gotik erschienen als
die, an die sich am besten anknüpfen ließ, aus deren vernünftiger Durchdenkung und Verwertung
der neue Geist in aller Ruhe von felbst eigne Gestaltungen gewinnen würde. Auf dieser Basis
gründete Morris in den sechziger Jahren seine umfassenden kunsthandwerklichen Unternehmungen,
seine Werkstätten, in denen Kunst und Handwerk in innigster Verbindung die Herstellung von
Gegenständen zu Gebrauch und Luxus jeder Art in Angriff nehmen sollten. Man begann
beim Ornament, das man vom starren Zwang der Kopie erlöste und aus einer freien Stili-
sierung der heimischen Flora und Fauna neu bildete. Auch die Gotik hatte das angestrebt,
aber unsere Augen sehen doch anders, erkennen die Natur schärfer, genauer. Andererseits er-
forderte der dekorative Zweck unerbittlich eine Vereinfachung der natürlichen Vorbilder, eine
Umwandlung des Wirklichen nach den Gesetzen alter Schmuckformen, die wohl Erinnerungen
an die Natur erwecken will, aber sie nicht abspiegeln darf. So entstanden die Flachmuster der
Stoffe und Tapeten in großen, das Entscheidende aus der Fülle des Tatsächlichen heraus-
hebenden Linien von wohltuendem Rhythmus, mit Hellen, lichten, freundlichen Farben, die zu
wohlerwogenen Akkorden zufammengestimmt wurden. So entstanden mit kluger Benutzung des
Vorhandenen und Gewohnten, der gotischen, der Chippendale- und Sheraton-Muster, die Möbel
und sonstigen Ausstattungsstücke des Jnnenraums, in denen sich praktische Bequemlichkeit und
Brauchbarkeit mit diskretem, nicht aufdringlichem, nie als Selbstzweck erscheinendem Schmuck

verband. So entstanden die Go-
belins und Glasmalereien, die
Teppiche, Vorhänge und Gardinen,
die vom Fluche der Tapezierer-
Draperie erlöst wurden, die mit
sorgsamer Überwachung aller Ein-
zelheiten hergestellten Bücher, von
denen schon die Rede war. Die
individuelle Arbeit der Hand wird
in ihrem Wert gegenüber der un-
persönlichen, schablonenhaft schaffen-
den Maschine erkannt, ihre leisen
Unregelmäßigkeiten als Wohltat
gegenüber der mechanisch herge-
stellten Korrektheit empfunden. Dort
grüßt aus jedem Teilchen die Er-
innerung an einen Menschen, der sich
liebevoll in sein Werk versenkt hat;
hier ernüchtert die Gleichgültigkeit
eines aus mathematischer Berech-
nung entstandenen toten Werkzeugs.
Und nicht auf möglichst viel Zierat

524. Tapete, entworfen von W. Leistikow.
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