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Das Problem des Transitorischen

II

Bei Daphne ist das Hauptproblem das der Verwandlung, das ja aber auch
in gewissem Sinne ein Problem der Bewegung ist. Sie soll gezeigt werden,
wie sie aus dem Fliehen anhält und gleichzeitig sich verwandelt. Es ist klar,
daß auch hier im allgemeinen auf immer stärkere Betonung des Transi-
torischen gezielt wird, daß also die Darstellung des ,, Sich verwandelns“,
nicht des ,,Verwandeltseins“ immer mehr das Interesse der Künstler bean-
sprucht. Wie kann aber Verwandlung, die in der Zeit geschieht, als momen-
tan dargestellt werden? Im Grunde kann dies natürlich nur andeutend
geschehen, und es fragt sich nur, in welcher Form diese Andeutung vom Be-
schauer am meisten als transitorisch empfunden wird. Hier ist einer jener
Fälle gegeben, bei dem Lessing nach dem „Laokoon“ eine Lösung nur in der
Zuhilfenahme des Zurück- und Voraus-Denkens des Beschauers hätte gelten
lassen, bei dem aber heutige Betrachtung — in Übereinstimmung mit der
Praxis des Barock — eine Lösung durch Veranschaulichung beider Stadien
für möglich halten darf und zwar auf dem Wege der Assimilation. Im Grunde
nämlich kann immer nur menschliche Form neben pflanzlicher gezeigt
werden, und auch ihr möglichst caesurenloses Aneinanderrücken, die „Ver-
schleierung“ der Übergänge, ruft an sich noch keine Vorstellung der momen-
tanen Verwandlung hervor, wie man sehr gut an den antiken und mittel-
alterlichen Darstellungen erkennen kann. Der Eindruck plötzlicher und zu-
gleich „organischer“ Verwandlung kann vielmehr nur dadurch erzielt werden,
daß der Beschauer unwillkürlich die menschliche Figur der Wachstums-
richtung des Baumes assimiliert. Dies geschieht weniger dadurch, daß die
unteren Körperteile Wurzel- und Stammcharakter erhalten — denn um der
deutlichen Veranschaulichung des „Noch-Fliehens“ willen geben die Maler
sehr oft die Beine noch unverwandelt —, als dadurch, daß die hochgeworfenen
Arme und Hände Ast- und Laubcharakter erhalten. Die konsequente Beob-
achtung dieses Kunstmittels ist begreiflicherweise eine jüngere Errungenschaft
als die weit weniger komplizierte der „günstigsten“ Darstellung Apollos;
ein Blick auf die reifsten Lösungen der Reihe der „transitorischen“ Lösungen
zeigt jedoch, daß in der Tat durch sie jenes Gefühl „organischer“ Verwandlung
erzeugt wird, das unser Empfinden oder besser gesagt eine kongeniale Ovid-
Interpretation verlangt und das auf anschaulicher Angleichung, damit auf
einem momentan funktionierenden1) ästhetischen Verhalten beruht.
Wenn man nun nach Darstellungen der Fabel Umschau hält, für die die
hier skizzierte „transitorische“ Lösung nicht zutrifft, so wird man ganz na-
türlich zunächst auf das Mittelalter gewiesen. Ihm gegenüber wird man die
Forderung nach Gleichzeitigkeit, gar einer zugespitzten Gleichzeitigkeit in
der Darstellung des Stoffes von vornherein nicht stellen wollen, vielmehr
ein diskontinuierliches Aneinanderreihen von statisch aufgefaßten Szenen
erwarten können, etwa in der Art, daß das Erblicken der Jungfrau durch
Apollo, ihre Flucht, ihr Verwandelt sein, Apollos Klage um sie nebeneinander
erzählt werden. In der Tat werden wir auf solche Formulierungen noch im
Quattrocento stoßen, ja darüber hinaus ihr Weiterleben in der Illustration
und natürlich dort — zu verfolgen haben. Dennoch gibt es nicht viele
Darstellungen dieser Art, die nicht doch schon vom „transitorischen“ Denken
i) Hierbei ist natürlich abgesehen von der physiologischen Blickbewegung, der
Notwendigkeit des „Zeitverbrauchs“ beim Ablesen des Bildganzen, die ja aber für jede
optisch-ästhetische Aufnahme gilt und hier nicht erörtert werden soll.
 
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